Soziale Verdrängung plus Repression: Die Berufsverbote für DDR-Bürger nach 1990

Effektiver als ein Radikalenerlass

Aus streng wirtschaftlicher Sicht war der Anschluss der DDR 1990 die Übernahme einer gewaltigen Immobilie. Die dort lebende Bevölkerung störte. Denn wer im Sozialismus gelebt hatte, war für Kapital und Politik der BRD verdächtig. Wer sich aber für die DDR und gar für ihre Verteidigung engagiert hatte, musste kaltgestellt, notfalls mit Hilfe des politischen Strafrechts hinter Schloss und Riegel gebracht werden.

Arnold Schoelzel 1 - Effektiver als ein Radikalenerlass - DDR, Geschichte der Arbeiterbewegung, Kapitalismus, Repression - Positionen

Was also tun mit der DDR-Gesellschaft? Einfache Frage, einfache Antwort: Zunächst gesellschaftliche Netze zerschlagen, das heißt insbesondere Arbeits-, politische und gewerkschaftliche Kollektive. Das führte zur Abwanderung von rund fünf Millionen DDR-Bürgern. Vieles bei der Beseitigung von Hinterlassenschaften der DDR erledigte sich so nebenbei. Es blieben allerdings die Millionen DDR-Bürger, die verdächtig waren, mit Selbstbewusstsein den westdeutschen Eroberern und ihren ostdeutschen Helfern entgegenzutreten. Sie waren das Gespenst, das in Vorständen von Großbanken und Konzernen sowie dem bundesdeutschen Staatsapparat 1990 umging. FDJ- und KPD-Verbot ließen sich nicht wiederholen, die Berufsverbote, die am 28. Januar 1972 beschlossen wurden, in der damaligen Form auch nicht. Sie sind immerhin auch bei liberalen Publizisten wie Heribert Prantl im Gedächtnis. Er verschickte am vergangenen Sonntag seine „politische Wochenschau“ unter dem Titel „Hexenjagd-Jubiläum“.

Die Berufsverbote, die ab 1990 in der DDR durchgesetzt wurden, kommen aber bei ihm nicht vor. Der wichtigste Grund dürfte sein: Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bleibt ein Tabu. Es war zwar seit seiner Gründung aus der Sicht des Westens staatlich organisierte Opposition gegen die BRD, aber diese Tatsache zu benennen, ist bei Strafe sozialer Ächtung nicht geboten. Seit 1990 spätestens muss der Gesslerhut gegrüßt werden, das MfS habe vor allem die eigene Bevölkerung unterdrückt. Also wurde die Überprüfung auf Tätigkeit für das MfS nicht nur bei Bewerbungen für den öffentlichen Dienst zuletzt im September 2019 bis zum Ende des Jahres 2030 verlängert, gilt also auch für jene, die 1990 Schüler in der DDR waren. Seit 32 Jahren droht so fristlose Kündigung im öffentlichen Dienst und ein lebenslanges Berufsverbot. Deutscher Imperialismus hat einen langen Atem.

Mit den DDR-Intellektuellen ließ sich vergleichsweise kurzer Prozess machen. Auch weltweit bekannte Wissenschaftler wurden vertrieben. Sachsen war vorbildlich bei der Vertreibung von DDR-Wissenschaftlern und vieles, was dort geschieht, hat nicht nur soziale Ursachen, etwa im Niedriglohn. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

Die Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) gab 1993 ein Weißbuch zu „Wissenschaft und Kultur im Beitrittsgebiet“ heraus. Einige Zahlen: „Nach den Angaben der Bundesregierung hatten im Dezember 1992 von den ehemals 195.073 Beschäftigen in Forschung und Lehre nur noch circa 23.600 eine Vollzeitstelle, das waren 12,1 Prozent.“ Von den einst 30.000 Künstlern, die in den DDR-Künstlerverbänden organisiert waren, konnte sich 1993 nach Schätzungen etwa ein Drittel von ihrem Beruf ernähren. Rund 80 Prozent der Unterhaltungskünstler mussten aufgeben. Von den bei Film, Fernsehen, Hörfunk, Verlagen und Printmedien der DDR etwa 30.000 Beschäftigten hatte geschätzt noch rund ein Viertel eine Stelle. Von den insgesamt zwei Millionen Hoch- und Fachschulabsolventen, die in der DDR lebten, wurden mehr als eine Million aus dem Berufsleben ausgegrenzt. Weltweit gab und gibt es nichts Vergleichbares, Kritik etwa der UNO wurde ausgesessen.

Für die Herrschenden der Bundesrepublik hieß die Lehre: Die soziale Vernichtung potentieller Gegner ist effektiver als ein „Radikalenerlass“. Die offene Repression bleibt in Reserve, wichtiger aber ist die Verdrängung ganzer Gesellschaftsgruppen per Gesetz. Was in der DDR funktioniert hat, wurde Blaupause für die antisoziale und kriegsvorbereitende Politik der folgenden Jahrzehnte.

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"Effektiver als ein Radikalenerlass", UZ vom 21. Januar 2022



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