Wie ein Dortmunder Gericht die Angehörigen verbrannter Textilarbeiter aus Pakistan abfertigt

Echter Mord, falsche Gesetze

Von Hanfried Brenner

Saeeda Khatoon kam vor Gericht nicht zu Wort. Sie war die 4 000 Kilometer von Pakistan nach Deutschland gereist, um dem Richter und dem Chef und des Textildiscounters Kik davon zu erzählen, wie ihr Sohn verbrannt war. Der Vorsitzende Richter befand, dass das zur juristischen Klärung nichts beitragen würde. Khatoon konnte nicht berichten, wie sie den Rauch gesehen hat, der über der Fabrik von Ali Enterprises in Karachi aufstieg, in der ihr Sohn, 18 Jahre alt, Textilarbeiter, die Kleider nähte, die Kik beim Eigentümer bestellt hatte. Gemeinsam mit anderen Angehörigen von Arbeitern rannte Khatoon damals, 2012, zur Fabrik. Von ihrem Sohn sah sie nur noch die verbrannte Leiche.

„Lieber echte Karriere als falsche Ideale“ – mit diesem Spruch warb Kik vor ein paar Jahren um Mitarbeiter. Das Management lehnt jede Verantwortung dafür ab, dass die Arbeiter, die für sie produziert haben, gestorben sind. Die Konzernvertreter schieben die Schuld örtlichen Kriminellen zu, die den Brand gelegt hätten – am Brandschutz habe es nicht gelegen. Außerdem habe das Unternehmen schon über sechs Millionen Dollar Entschädigung gezahlt.

Nach der Juristenlogik des Richters und der Kik-Anwälte geht es in dem Prozess nicht darum, dass Kik unter mörderischen Bedingungen produzieren lässt. Hier geht es darum, dass die nach pakistanischem Recht vorgesehene Verjährungsfrist von zwei Jahren bei Klageerhebung schon abgelaufen war – am 10. Januar, dem zweiten Verhandlungstag, entschied der Richter am Dortmunder Landgericht, die Klage als unzulässig abzuweisen. Drei Angehörige und ein Überlebender des Fabrikbrandes hatten im März 2015 geklagt, um Kik zu zwingen, den Familien der Opfer je 30 000 Euro Entschädigung zu zahlen. Kik war der größte Auftraggeber, für den in der Fabrik produziert wurde, deshalb waren die Kläger der Meinung, dass der Konzern auch für den Brandschutz eine Verantwortung trage.

In der Fabrik gab es keine Sprinkleranlagen, keine Feuerlöscher, keine ausreichenden Fluchtwege. Die Fenster waren vergittert oder vermauert. Als das Feuer ausbrach, füllten sich die Räume mit Rauch. Zeugen berichten, wie Arbeiter versuchten, aus dem Gebäude zu fliehen. Der einzige Ausgang war elektrisch gesichert, als der Strom ausfiel, blockierte die Tür. Manche sprangen aus dem oberen Stockwerk, manche erstickten, manche verbrannten, manche ertranken im Keller im Löschwasser. 258 Kolleginnen und Kollegen starben.

„Ich hoffe, dass das Gesetz siegen wird und ihnen Gerechtigkeit widerfahren wird. Wenn nicht, bedeutet das, dass das Leben der Arbeiter, die in den Fabriken arbeiten, immer in Gefahr sein wird“, sagte Sayeda Khatoon, eine der klagenden Hinterbliebenen. „Solche Unfälle müssen überall auf der Welt verhindert werden. Wir kämpfen für unser Recht und unser Ziel ist es, dass es nirgendwo mehr solche Brände geben darf.“ Am ersten Verhandlungstag am 29. November hatten Unterstützer der Kläger vor dem Kik-Geschäft im Westenhellweg, einer Dortmunder Einkaufsstraße, gegen die mörderischen Arbeitsbedingungen protestiert, für die Kik und andere Konzerne sorgen.

Die vier Kläger wurden von der Menschenrechtsorganisation ECCHR (Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte) unterstützt und vor Gericht vertreten. ECCHR-Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß sagte nach dem Urteil, die Klage habe zumindest erreicht, dass jetzt über mehr Sorgfaltspflicht der Textilunternehmen bei der Produktion gesprochen werde: „Deutsche Unternehmen aller Branchen haben die Klage gegen Kik genau verfolgt. Rechtsexperten in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz griffen die Argumentation auf. Allen ist klar: Das aktuelle Recht wird der globalisierten Wirtschaft nicht gerecht.“ Dass Medien und Juristen den Prozess aufmerksam verfolgten, liegt daran, dass Ali Enterprises kein Einzelfall ist. 2013 starben in Bangladesch über 1 100 Menschen, als das Fabrikgebäude Rana Plaza einstürzte. Auch hier hatte Kik produzieren lassen. Wahrscheinlich werden die Kläger nicht in Berufung gehen. Sie müssen die Prozesskosten tragen, und die Aussicht, dass das Berufungsgericht anders entscheidet, sind gering.

Jederzeit könne es wieder zu einer Katastrophe wie bei Ali Enterprises kommen, sagt Nasir Mansoor, der stellvertretende Vorsitzende der pakistanischen Gewerkschaft National Trade Union Federation (NTUF). Er war im November zum Beginn des Prozesses nach Dortmund gekommen, um die Kläger zu unterstützen. Er berichtet, dass sich seit der Katastrophe nichts an den Arbeitsbedingungen und Sicherheitsstandards geändert hat: „Unternehmen und Fabrikbesitzer haben nichts gelernt aus der Tragödie.“

58 Millionen Beschäftigte arbeiten in der pakistanischen Industrie, 65 Prozent von ihnen in der Textilindus­trie, die vor allem für Abnehmer in der EU und Nordamerika produziert. Nur ein Prozent aller Beschäftigten ist in einer Gewerkschaft organisiert, ein Recht auf Gründung von Arbeiterorganisationen gibt es nicht. Das macht es schwerer, mit Kollegen aus anderen Fabriken in Kontakt zu kommen, und diese Zersplitterung hat Folgen: keine soziale Sicherheit, kein Rentensystem. Um das durchzusetzen, fehlt die Geschlossenheit, erklärt der Gewerkschafter Mansoor. In den Fabriken arbeiten die Beschäftigten zehn bis zwölf Stunden am Tag, im Monat verdienen sie weniger als 100 Dollar. Die Vereinbarung zwischen Pakistan und der EU über Menschen- und Arbeitsrechte hält Mansoor für leere Worte. Er sagt: „Die Arbeiter haben keine Rechte.“

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"Echter Mord, falsche Gesetze", UZ vom 18. Januar 2019



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