Von Häuptlingen und Liebe

Echt jetzt?

Kolumne oder so

Leben I. Der Nachbar dröhnt immer noch, die neue, größere Wohnung habe ich nicht bekommen, der Husten will nach Corona nicht verschwinden, die große Zahn-OP steht vor der Tür und bereitet mir jetzt schon Albzähne, äh, -träume. Die bestellte neue Espressomaschine läuft nicht und die Serviceberaterin aus der Schweiz rät mir, das defekte Gerät nach 78199 Bräunlingen (nein, kein Witz) zu schicken, da könnte man es vielleicht reparieren. Sie ist sehr irritiert, dass ich gar keinen Bock darauf habe, eine 8 Kilo schwere Maschine wieder mühsam einzupacken, zur Post zu schleppen und quer durch das schöne Deutschland zu schicken („Dann ist doch aber sichergestellt, dass sie läuft!“). Und stattdessen eine neue möchte. Und ich so: Echt jetzt?

Medien I. n-tv schreibt: „Habeck und Özdemir in Brasilien: Fairer ausbeuten mit Robert und Cem“ und ich kann nur meinen nicht vorhandenen Hut ziehen. Besser können es die Protagonisten nur selber: „Ich bin der Robert, das ist Cem, und wir sind Minister in der deutschen Regierung – das ist so etwas wie euer Häuptling, aber in einem anderen Land“ (Habeck). Toll.

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Kultur. Der deutsche Film „Im Westen nichts Neues“ gewinnt vier Oscars. Prima, nur meine Aufmerksamkeit nicht. Nach einer Stunde gruselig hölzerner Mimik und absurd eindimensionaler Figuren musste ich ausschalten. „Das Werk ist lediglich ein den Kriegsfilmstandard erfüllendes Konsumprodukt“ („Philosophie Magazin“). Und noch dazu: ein schlechtes. Oder anders gesagt: Im Westen nichts Neues.

Freizeit. Der Gartenbro und meine Kleinigkeit beim Billard, ausnahmsweise an einem Samstag. Wir betreten die Räumlichkeiten des schönen „Missin‘ Link“ und der Altersdurchschnitt steigt impulsiv um 267 Prozent. Der Laden ist pickepackevoll mit jungen Menschen, ich möchte mir fast mit meinem Queue eine Bresche zum Tisch schlagen. Und was tun diese Kids? Feiern und Trinken, als wär‘s der jüngste Tag. Und ich dachte immer, die Studenten haben keine Kohle. Oder es ist die „Letzte Generation“. Dann isses ja egal mit dem Dispo.

Medien II. KI – Künstliche Intelligenz: „Einen Liebesbrief selbst verfassen? Anstrengend! Chatbot ChatGPT von OpenAI spuckt locker-flockig ein paar Zeilen aus“ („Computer Bild“). Beispiel? „Ich möchte dir all meine Liebe geben. Ich kann es kaum erwarten, meine Zukunft mit dir zu gestalten und unsere Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Ich liebe dich von ganzem Herzen.“ Jetzt ist mir schlecht. Leute: Echt jetzt?

England. Fußballlegende und „BBC“- Moderator Gary Lineker wurde zwischenzeitlich für die Sendung „Match of the day“ suspendiert. Er hatte die Regierung scharf angegriffen: Die Pläne, Flüchtlingen bei illegaler Einreise generell Asyl in Großbritannien zu verweigern, seien „unermesslich grausam“. Die Sprache, die von der Regierung benutzt werde, sei außerdem „der gebräuchlichen Sprache des Deutschlands der 30er Jahre ähnlich“. Was die „BBC“ nicht erwartete: Ian Wright und Alan Shearer, beide ebenfalls ehemalige englische Nationalspieler, sagten der BBC, dass sie für die Sendung auch nicht zur Verfügung stünden. Die Solidarisierung ging so weit, dass kein einziger Moderator oder Kommentator bereit war, einzuspringen. „Match of the day“ lief erstmalig ohne Ton. Schön.

Leben II. Der junge Nachbar aus dem 5. zieht aus. Netter Kerl, immer gut gelaunt, Italiener, Fußballer, Ende 20. Wir haben häufig geredet über Gott (weniger) und die Welt (mehr). Gibt mir beim Abgang die Ghettofaust und sagt: „Du warst der coolste Nachbar ever. “ Und ich sitze auf dem Sofa, schwer gebauchpinselt, mit einem Tränchen im Knopfloch und denke mir: Echt …

Pace.

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"Echt jetzt?", UZ vom 24. März 2023



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