ver.di-Bundesvorstandsmitglied Silke Zimmer zeigt sich überaus zufrieden: „Das war lange überfällig. Die Kolleginnen und Kollegen haben ein Jahr hart gekämpft.“ Die nun erzielte Tarifeinigung für den Einzelhandel in Hamburg sei „ein großartiger Erfolg“. Sie sieht vor, die Löhne der Beschäftigten in drei Stufen zu erhöhen: Rückwirkend zum 1. Oktober 2023 um 5,3 Prozent und zum 1. Mai 2024 um 4,7 Prozent sowie ab dem 1. Mai 2025 um weitere 40 Euro und 1,8 Prozent. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 36 Monate. Dazu gibt es eine Einmalzahlung („Inflationsausgleichsprämie“) in Höhe von 1.000 Euro, die für Teilzeitbeschäftigte nur anteilig ausgezahlt wird. Für Zimmer ist das ein Pilotabschluss: „Wir hoffen, dass die Arbeitgeber jetzt auch in den anderen Tarifgebieten ihre Blockadehaltung aufgeben.“
Orhan Akman teilt diese positive Wertung Zimmers nicht. Er leitete bis zu seiner Suspendierung durch den ver.di-Bundesvorstand die Bundesfachgruppe für den Einzel- und Versandhandel. In einer Stellungnahme, die er auf seiner Website „orhan-akman.de“ veröffentlicht hat, fordert er seine Gewerkschaft dazu auf, Niederlagen auch als solche zu benennen und sie nicht schönzureden. Wir dokumentieren seine Einschätzung zum Tarifergebnis im Handel in Auszügen:
Zwischen einer Tarifforderung und einem Abschluss gibt es in der Regel ein Delta beziehungsweise eine Lücke. Das ist nichts Unübliches, wenn man dies begründen und erklären kann. Bei diesem Tarifabschluss ist das Delta so groß, dass man es den Beschäftigten nicht ehrlich erklären könnte.
Der Faktencheck zeigt: Der Hamburger Tarifabschluss ist weit entfernt von den Forderungen von ver.di. Die tabellenwirksame Erhöhung der Löhne zum 1. Oktober 2023 ist keineswegs ein Erfolg. Der Einzelhandelsverband HDE hatte den Unternehmen bereits im Herbst empfohlen, die Löhne „freiwillig“ um 5,3 Prozent zu erhöhen. Damit hat der HDE Fakten geschaffen. Neben den fünf Nullmonaten wurde damit auch prozentual ein Reallohnverlust zementiert.
Daher muss meines Erachtens erklärt werden, warum dieses Ergebnis plötzlich gut sein soll, obwohl zuvor genau das Gegenteil gesagt wurde. Silke Zimmer, die auf dem Bundeskongress in den ver.di-Bundesvorstand für den Fachbereich Handel gewählt wurde, äußerte sich seinerzeit völlig anders und sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Das, was jetzt freiwillig gezahlt wird, bedeutet einen weiteren Reallohnverlust für die Beschäftigten. Es sind 92 Cent, die eine Verkäuferin mehr bekommt.“
Der Tarifabschluss in Hamburg schreibt für das erste Tarifjahr mit der Erhöhung um 5,3 Prozent genau diese 92 Cent fest! (…) Auch die nun tarifierte 4,7-Prozent-Erhöhung zum 1. Mai 2024 steht schon seit Längerem fest. Auch hier hatte der HDE den Unternehmen empfohlen, die Löhne in diesem Tarifjahr um 4,7 Prozent zu erhöhen. Mit 5,3 Prozent in 2023 und 4,7 Prozent in 2024 hat der HDE ver.di die insgesamt 10 Prozent Erhöhung aufgezwungen, die bereits im Sommer 2023 als mögliches Verhandlungsergebnis auf dem Tisch lagen.
Die Forderung nach der gemeinsamen Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit (AVE) der Tarifverträge konnte ver.di nicht durchsetzen. Nicht einmal eine Absichtserklärung oder Verhandlungsverpflichtung zur AVE konnte ver.di erreichen. Angesichts der dramatischen Erosion der Tarifbindung im Handel, die unsere Gewerkschaft immer mehr schwächt, wäre eine Vereinbarung zur AVE von zentraler Bedeutung.
Erstmals seit Beginn der Tarifrunden im Handel in den 2000er Jahren ist es der Kapitalseite gelungen, ver.di Handel zu einem Tarifabschluss von weit über 24 Monaten zu zwingen. Obwohl ver.di in ihrer Forderung eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert hatte, musste die Gewerkschaft durch den Hamburger Tarifabschluss erstmals eine Laufzeit von drei Jahren „schlucken“. Dabei ist die Erhöhung für das dritte Tarifjahr im Abschluss mit 40 Euro Festgeldbetrag plus 1,8 Prozent mehr als dürftig.
Im vergangenen Jahr hatten die regionalen Unternehmensverbände ver.di immer wieder eine Laufzeit von 24 Monaten (bei einem besseren Tarifangebot!) vorgelegt, was die Gewerkschaft ablehnte!
Die vereinbarte Inflationsausgleichsprämie (IAP) fällt mit 1.000 Euro auch sehr gering aus. Der Gesetzgeber hatte den Unternehmen die Möglichkeit eingeräumt, bis 3.000 Euro abgaben- und steuerfrei mit den Gewerkschaften zu vereinbaren. Insoweit wäre sicherlich ein höherer IAP-Betrag notwendig, aber auch finanziell für die meisten Unternehmen möglich gewesen. Warum ver.di die 1.000 Euro IAP für die Teilzeitbeschäftigten nur anteilig vereinbart hat, ist unverständlich und auf jeden Fall falsch. Denn 70 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten in Teilzeit und bekommen daher nur einen Bruchteil von den 1.000 Euro, obwohl die Teuerung der Lebenshaltungskosten die Teilzeitbeschäftigten gleichermaßen trifft wie die Vollzeitbeschäftigten.
In der Summe hat sich der Handelsverband Deutschland (HDE) drei zu null gegen ver.di durchgesetzt. Für die Tarifjahre 2023 und 2024 hat der HDE durch angekündigte und vollzogene freiwillige Erhöhungen bereits Fakten geschaffen, an denen ver.di nicht vorbeikam. Dabei konnte ver.di nicht einmal die Zahl hinter dem Komma zu Gunsten der Beschäftigten verbessern! Mit fünf Nullmonaten sowie einer Erhöhung von 5,3 Prozent und ohne eine IAP hat der HDE dieses Tarifjahr 2023 voll für sich verbuchen können. (…)
Der Abschluss mit 4,7 Prozent in 2024 bleibt auch hinter den Erwartungen der Beschäftigten zurück. Dabei wäre beispielsweise ein Festgeldbetrag statt einer prozentualen Erhöhung in den unteren Gehaltsgruppen deutlich besser. (…)
Doch statt im Jahr 2023 einen Abschluss zu erzielen, wie die Kolleginnen und Kollegen der ver.di-Tarifkommission aus Baden-Württemberg Ende letzten Jahres berechtigterweise gefordert hatten, ist ver.di Handel unvorbereitet in das Jahr 2024 reingerutscht. Damit hat ver.di die öffentliche Deutungshoheit über diese Tarifrunde spätestens Anfang 2024 verloren und ließ sich vom HDE treiben. Ein Ergebnis davon ist, dass der HDE ver.di einen Abschluss von 36 Monaten aufzwingen konnte.
ver.di konnte sich nicht annähernd mit ihren Tarifforderungen durchsetzen. Die einzigen beiden Punkte, die man positiv anmerken muss, sind die jährliche Erhöhung der tariflichen Altersvorsorge ab 1. Januar 2025 um 120 Euro sowie, dass es überhaupt einen Tarifabschluss gibt.
Bekanntlich kann man die Geschichte nicht ändern. Der Tarifabschluss ist Fakt und daran wird ver.di in den anderen Tarifgebieten kaum etwas zum Positiven ändern können. Anstatt diese tarifpolitische Niederlage schönzureden oder zu verklären, ist eine offene, kritische und ehrliche Diskussion mit der breiten Basis der Gewerkschaft, allen voran mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Streikbetrieben, notwendig. Geschieht das nicht, droht ver.di wichtige, kritische und kämpferische Kolleginnen und Kollegen sowie Streikbetriebe zu verlieren. Handelsbeschäftigte können nämlich rechnen, denn die Verkäufer und Kassierer schauen immer genau darauf, dass die Kasse stimmt. Und das gilt auch für das eigene Portemonnaie.
Für ver.di im Handel ist es höchste Zeit für einen Kassensturz und eine Neuausrichtung der Tarifpolitik im Handel. Ansonsten läuft ver.di akute Gefahr, als Tarifgewerkschaft ohne einen Rettungsanker in der Bedeutungslosigkeit zu versinken!