Jugendradio nicht nur für die DDR

DT 64 – Eine Pfingststory in Blau

Das Pfingstwetter meinte es gut mit dem, was sich an jenen drei Maitagen des Jahres 1964 auf Straßen und Plätzen der DDR-Hauptstadt Berlin abspielte. Eine halbe Million Jugendliche aus der DDR begegneten 25.000 Gleichaltrigen aus der Bundesrepublik und Westberlin beim Deutschlandtreffen der Jugend. Die „von drüben“ waren gekommen, weil sie sich der DDR verbunden fühlten oder weil sie sie besser kennenlernen wollten. Andere, um zu stänkern. Ich war 16, politisch noch ein bisschen auf der Suche und geriet nicht weit von den offiziellen Veranstaltungen in hitzige, spontan am Straßenrand ausgetragene Diskussionen. Über die Lebensweisen in Ost und West, über Berufs- und Bildungschancen, über alte Naziköpfe und -zöpfe in westdeutschen Amtsstuben, über Friedensliebe und den Sinn der Mauer, natürlich über längere Haare und was die beiderseits angebeteten „Beatles“ darunter so bewegte. Farbe des Pfingstevents: Blau. Zahlreich in Blauhemden die FDJ; in Jeans und Nylonmänteln (wir nannten die bei uns noch suspekten Textilien Nietenhosen und NATO-Kutten) die Youngster von nebenan. Die Argumente flogen wie Pfeile hin und her. Wenn es stimmt, dass einige unserer Gäste in Westberliner Schulungscamps auf die Visite vorbereitet wurden und nun meinten, mit dem Argumentevorrat der FDJ-Blauen spielend fertig zu werden, dann trafen sie auf ein unvermutetes Selbstbewusstsein. Überhebliche Töne stockten, und wenn doch einer mit „SBZ“ anfing (das Kürzel von „Sowjetische Besatzungszone“ war im Westen das verächtliche Substitut für DDR), wurde es in der Runde laut. Ich lernte da etwas: Leute neben mir, älter oder so alt wie ich, verteidigten ihren Vorsatz, etwas Vernünftiges aus ihrem Leben zu machen und wussten aus ihrem Alltag, warum das beim sozialistischen Aufbau Erfolg versprach. Zu ihrer Sicht fühlte ich mich hingezogen.

Selbstbewusstsein durch ­Vertrauen und Leistung

Dieser selbstbewusste Ton kam nicht von ungefähr. Im September 1963 hatte die SED-Führung ein Jugendkommuniqué verabschiedet, das der Jugend als „Hausherren von morgen“ Mitsprache in allen gesellschaftlichen Belangen zumaß. Ihr mehr Vertrauen entgegenzubringen und Verantwortung zu übertragen wurde zum Leitbild der Jugenderziehung. Ein neues Jugendgesetz, das die DDR-Volkskammer am 4. Mai 1964 verabschiedet hatte, verpflichtete die Staats- und Wirtschaftsorgane, ökonomische Initiativen von Jugendkollektiven zu fördern, junge Leute an der Ausarbeitung und Kontrolle der Pläne zu beteiligen und ihre Kritik ernst zu nehmen. Bereits die Lehrlinge sollten lernen, mit fortgeschrittenster Technik und modernen Technologien umzugehen. Überall galt es, Begabungen und Talente zu entdecken und zu fördern. Das kulturelle Freizeitangebot sollte reicher und bunter werden. Eine Probe dafür waren die Maitage 1964.

14 Jahre zuvor hatte das erste Deutschlandtreffen der Jugend stattgefunden – vom 27. bis zum 30. Mai 1950. Die Schöpfer der DDR-Nationalhymne, Johannes R. Becher und Hanns Eisler, hatten dafür ihr Lied von den „blauen Fahnen nach Berlin“ geschrieben, das unsere Altvorderen noch lange sangen oder pfiffen. Auch ein älterer Diskutant unserer Straßengespräche war damals dabei gewesen und erzählte ein bisschen davon. 700.000 Jugendliche aus der DDR hatten sich mit 30.000 jungen Leute aus der BRD getroffen, gedachten am Treptower Ehrenmal der sowjetischen Befreier, wandten sich gegen die Remilitarisierung in Westdeutschland, forderten die Ächtung der Atombombe, wollten sich nie wieder in einen imperialistischen Krieg treiben lassen. Der Dichter Stephan Hermlin hatte erklärt, keine Idee sei mehr dazu angetan, „die neue deutsche Jugend zu begeistern, als die Idee des Friedens“. Diese Friedenssehnsucht bedachte die Opfer des Krieges und sah sich umgeben von Trümmern, die Berlin wie so viele deutsche Städte fünf Jahre nach Kriegsende noch übersäten. Deshalb sei es schön gewesen, sagte der ältere Augenzeuge, dass es neben den Ruinen wieder Musik und Tänze gegeben hatte und ein hoffnungsvolles, befreites Lachen.

In den nahezu anderthalb Jahrzehnten seit diesem ersten Deutschlandtreffen der Jugend hatte sich das Bild der DDR für jedermann erfahrbar zum Besseren verändert. Viel war aufgebaut oder neu errichtet worden – oft als Jugendobjekt: Im Stahl- und Walzwerk Brandenburg oder im Eisenhüttenkombinat Ost, weil die DDR dringend eine eigene metallurgische Basis benötigte. Beim Bau der Talsperre in Sosa, um für 100.000 Menschen das Trinkwasser zu sichern. Beim Jugendkraftwerk Trattendorf, dem damals größten und modernsten Kraftwerk der DDR, oder in den Buna-Fabriken zum Ausbau der volkseigenen chemischen Industrie. Ferner bei gewaltigen Bodenverbesserungsvorhaben sowie beim Bau des Überseehafens in Rostock oder des Flughafens Berlin-Schönefeld. Auch an der Wiedererrichtung der Hauptstadt war die Jugend beteiligt: Am Stadion in der Chausseestraße zum Beispiel, wo die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten eröffnet wurden. Oder an der Stalinallee, die nun Karl-Marx-Allee hieß und unseren Debatten ein weiträumiges Podium gab.

DT 64 – Geburtsstunde eines Jugendsenders

Der DDR-Sender Berliner Rundfunk hatte die Idee, für die Tage des Deutschlandtreffens ein eigenes Studio einzurichten, aus dem vor allem für jugendliche Hörer von den drei Maitagen berichtet werden sollte. Ein temporäres „Senderchen“ also, das mit dem schlichten Event-Kürzel DT 64 titelte. Keiner ahnte, was für ein langes und erfolgreiches Leben dieses Kurzzeit-Label haben würde. Ein Jugendsender war geboren, der bis zum Ende der DDR und noch kurz danach begeistert gehört wurde. Was vom Deutschlandtreffen an Livereportagen und lockeren Statements durch den Äther kam, begleitet von toller Musik aus allen Himmelsrichtungen, klang außerordentlich authentisch und bewirkte, dass immer mehr junge Leute DT 64 auf ihrer Senderskala arretierten. Das muss den erfolgsverwöhnten Westberliner RIAS geschmerzt haben. Der frische, kulturell vielseitige und natürlich immer prosozialistische Tonfall von DT 64 setzte sich in den Folgejahren fort, in denen sich der Sender als hautnaher Förderer und sensibler medialer Begleiter von Jugendprojekten erwies.

2008 Bundesarchiv Bild 183 1990 0908 015 Berlin Hungerstreik fu╠er Erhalt von Jugendradio DT 64 - DT 64 – Eine Pfingststory in Blau - DDR, DT 64, Jugend - Kultur
Susanne und Cornelia mit „Pali“ und DDR-Fahne im Hungerstreik. Massiver Protest konnte den ersten Angriff auf DT64 abwehren: Am 7. September 1990 gingen alle Sendefrequenzen außerhalb Berlins an den Westberliner Sender RIAS. Einen Tag später mussten sie zurückgegeben werden. Im Juni 1992 wurde DT64 auf Mittelwelle abgeschoben und damit das Ende eingeläutet. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0908-015 / Grimm, Peer / CC BY-SA 3.0 / Bearb.: UZ)

Viele junge Leute, die damals ihr literarisches oder musikalisches Coming-out wagten, profitierten davon – ich auch. Dass ich zusammen mit meinem Buddelkasten- und Schulfreund Thomas Natschinski in eben jenem ereignisreichen Jahr 1964 Mitbegründer der DDR-Beat-Gruppe „Team 4“ wurde, hatte auch mit dem Deutschlandtreffen zu tun. Da trat eine tschechische Band auf. Die hatte einen Sound drauf, der dem edlen, aus den britischen Industriegebieten am River Mersey herübergekommenen Beat verblüffend ähnelte. Er hob sich so wunderbar vom Schlagerschmus in unseren heimischen Wohnzimmern ab, dass es in den Fingern juckte. Unser Urteil lautete: Das können wir auch. Texte in Deutsch – die Sprache erschien gut singbar und erlaubte dem Publikum, nuancierte Textbotschaften zu verstehen. Der Musikwissenschaftler Michael Rauhut hat später in seiner kritischen Bestandsaufnahme des DDR-Beats notiert, auf das Konto von „Team 4“ ginge „die Pionierleistung, ein halbes Jahrzehnt, bevor massenhaft andere Beat-Formationen nachzogen, eigene, muttersprachliche Songs von beachtlicher Güte geschrieben und gespielt zu haben“. Vorwürfe von BRD-Kritikern wie Olaf Leitner, deutsche Texte seien ein ultimatives Diktat der SED gewesen, sind blanker Unsinn – wir wollten das so. Und das war auch blickig, denn deutschsprachige Texte wurden zur Voraussetzung einer sich in der DDR herausbildenden Beat/Rock-Ästhetik, die auch die dortigen konkreten Lebensverhältnisse thematisierte.

Aber zurück zu DT 64. Hier hatten wir Oberschüler unser mediales Debüt, und wenn heute Lieder aus dem ersten „Team 4“-Album „Die Straße“ auf dem Plattenteller liegen, dann hat die Metapher vom Weg in jene sonnendurchflutete Stadt, die eine Menschenhoffnung geblieben ist, reiche Abschnitte, auf denen wir selbst gegangen sind. Und eines ist auch klar: Wenn Rockgruppen aus der DDR noch heute auf ostdeutschen Bühnen gefeiert werden, dann ist es wegen der Erinnerung an ihre alten Hits, die DT 64 zu seiner Zeit in die Ohren der Hörer gepflanzt hat.

Auch zu den Anfängen der Singebewegung, angestoßen von dem in die DDR übergesiedelten kanadischen Sänger Perry Friedman, der uns deutsche Volkslieder und US-amerikanische Protestsongs auf die Lippen legte, hat DT 64 viele Gleise gelegt. Redakteurin Marianne Oppel begleitete die Wege des Hootenanny- und späteren Oktoberklubs, war einfühlsame Beraterin und mediale Lektorin, gab die berühmten DT-64-Liederbücher heraus, in denen wir alle noch heute nachschlagen. Dem frechen Sender DT 64, der enge kulturpolitische Prämissen gern mal publikumsfreundlich weit auslegte, ist viel zu verdanken: Information, Bildung, Genüsse in der Freizeit. Gegen Ende der DDR war DT 64 Kult geworden. Das und sein Beharren auf Bewahrenswertem des untergehenden Landes machten ihn für bundesdeutsche Rundfunkpäpste zum Ärgernis. Seine Überlebenschancen standen schlecht. Trotz pfiffigen Widerstands von Hörern und Journalisten wurde der Sender zur Schlachtbank geführt. Seine Grabinschrift war ein Graffito an einem Telefonhäuschen: „DT 64 – ihr seid das Volk!“

DDR 75 – Erinnern formt die besten Argumente

Wir, die zum 1964er-Deutschlandtreffen 16 waren, sind heute ein bisschen älter als die DDR im kommenden Oktober geworden wäre. Unsere Wegmarken und Ankünfte waren natürlich verschieden. Aber bei vielen, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben, regt sich Ärger, wenn sie ihre oder die Biografien ihrer Eltern – veritable Lebensleistungen – entwertet sehen. Westdeutsche Ferndiagnostiker und Lehrstuhleroberer an ostdeutschen Universitäten wollen den Ossis ihr Leben erklären. Die Wut der Geschulmeisterten wuchs und wächst – und mit ihr die Widerspruchslust. Diese Lust gräbt großenteils in Erinnerungen, und gelebtes Leben formt die besten Argumente. Ich nenne nur das wichtigste: Zu unserem Leben in der DDR gehörte immer der Wille zum Frieden. Hermlins früher Spruch von der begeisternden Idee des Friedens hat zu Lebzeiten der DDR nie seine Gültigkeit verloren. Die Deutsche Demokratische Republik führte nie einen Krieg. Wer in ihr zu Hause war und seine Kinder nach ihrem Friedensplädoyer erzog, kann das heutige Geschrei nach deutscher „Kriegsertüchtigung“, europäischer Nuklearrüstung oder „wertegeleiteter“ Ostlandreiterei nicht ertragen. Er wird an Jean Jaurès‘ Mahnung erinnert: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Manchmal könnte man verzweifeln. Aber von meinem ehemaligen Chef, dem Kulturminister der DDR Hans-Joachim Hoffmann, lernte ich einen goldenen Satz: „Das Sicherste ist die Veränderung.“ Das nur zu hoffen, wäre zu wenig. Tun wir was dafür!

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"DT 64 – Eine Pfingststory in Blau", UZ vom 17. Mai 2024



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