Schwarzbuch Krankenhaus: Drastische Erfahrungsberichte aus dem Arbeitsalltag

Druck, Drohungen, Verzweiflung, Schuldgefühle

Anfang des Monats haben Krankenhausbeschäftigte in Köln Erfahrungsberichte als „Schwarzbuch“ vorgestellt und veröffentlicht. Sie schildern darin den Alltag in deutschen Kliniken. Die Botschaft ist klar: Der Klinikalltag ist geprägt von Stress und Überforderung. Schuld ist der Personalmangel – dazu kommen ökonomische Vorgaben, die erreichen sollen, dass Krankenhäuser „effizient“ arbeiten oder gar profitabel sind. Für die Beschäftigten bedeutet das eine enorme körperliche und psychische Belastung. Für Patientinnen und Patienten kann es lebensgefährlich werden. Wir dokumentieren an dieser Stelle einige Erfahrungsberichte aus dem „Schwarzbuch Krankenhaus“ in Auszügen.

290205 demo krankenhausbewegung berlin 2021 10 09 15 SebastianRichter - Druck, Drohungen, Verzweiflung, Schuldgefühle - Arbeitskämpfe, Entlastung, Krankenhaus, Streik, Tarifkämpfe - Wirtschaft & Soziales
(Foto: Sebastian Richter)

Seit über 30 Jahren arbeite ich als Altenpflegerin. Eine Nachtschicht: Dienstbeginn 21.45 Uhr. Übergabezeit bis 22.30 Uhr. 20 zum Teil sehr schwer betroffene Menschen werden von mir – alleine – betreut. Normalerweise haben wir sogar 30 Betten belegt, da sind dann immerhin zwei Pflegefachkräfte vorgesehen für die Nacht. Wohlgemerkt: eigentlich, denn ein Pflegehelfer wird auch oft als zweite Pflegefachkraft „gezählt“. Dieses Mal ist aber der zweite Kollege krank, der eingeplant war. Das war zwar schon zwei Tage vorher bekannt, aber keiner konnte einspringen. Pool oder Leasing wurde nicht genehmigt. Das war auch vor dem Streik schon oftmals so.

Die Bettenanzahl ist derzeit wegen des Streiks und vorher schon wegen Personalmangels und auch wegen der Pandemie auf 20 Menschen „heruntergefahren“ worden. Aber da ist der „Bettendruck“ (Zitat eines Arztes). Alle Führungskräfte warten nur darauf, die Bettenanzahl wieder hochzufahren.

Okay, ein Arzt ist jederzeit erreichbar, wenn es einen Notfall nachts gibt, aber der hilft natürlich nicht beim Schieberunterschieben, beim Bilanzieren, beim Bettbeziehen, bei Vitalzeichenkontrollen, beim Rundgängemachen, Tablettenstellen, Infusionenvorbereiten und -anhängen (teilweise bis zu 25 Stück pro Tag). Diese Nacht durfte ich früh schon neun Infusionen anhängen. Da muss man dann schon gegen 4.30 Uhr anfangen, sonst schafft man das nicht bis 6.00 Uhr. Dann alle zwei Stunden Umpositionieren von sechs unkooperativen, demenzkranken und zwei sehr schwergewichtigen, unbeweglichen Menschen (…).

Zwei Menschen mit Durchfall, ein Mensch mit Atemnot und starken Schmerzen (…), Beine mal hochlegen, ohne dass die Klingel läutet? Pausenablösung? Hilfe für schwierige pflegerische Verrichtungen? Soll man sich auf der Nebenstation holen. Klappt nicht immer, da dort selbst die Luft brennt und außerdem von einigen Kollegen nur ungern in der Geriatrie geholfen wird. (…)

Kommt von einigen (nicht allen) Kollegen so rüber nach dem Motto: „Wer da freiwillig arbeitet, ist selber schuld.“ Diesen Satz habe ich mal von einer Pool-Kraft gehört. Die kam dann allerdings nie wieder bei uns zum Aushelfen. (…)

Seit 2015 arbeite ich auf meiner Station, 31 Kollegen – davon vier Leitungen – habe ich gehen sehen. Fünf pro Jahr. Wären diese Kollegen alle geblieben, hätten wir zumindest auf unserer Station keine Probleme mehr.

Manche fragen sich wohl: „Wie hältst du das nur aus? Warum machst du nur weiter? Warum hast du dir nicht einen schönen, ruhigen Bürojob gesucht? Tja … dann kann ich nur sagen – wie ein bekannter Intensivpfleger aus Berlin mal gesagt hat – „Pflegt euch doch alle selbst“.

290202 demo krankenhausbewegung berlin 2021 10 09 24 SebastianRichter1 - Druck, Drohungen, Verzweiflung, Schuldgefühle - Arbeitskämpfe, Entlastung, Krankenhaus, Streik, Tarifkämpfe - Wirtschaft & Soziales
(Foto: Sebastian Richter)

Wir waren mit drei Hebammen im Spätdienst bei fünf voll belegten Kreißsälen, also übermäßig belastet. Eine Frau war unter Einleitung der Geburt am CTG. Das ist ein Gerät, das die Herzfrequenz des Babys und die Wehentätigkeit der Gebärenden misst. Keiner konnte ein Auge auf sie haben, da alle Kreißsäle mit Gebärenden belegt waren.

Der dritte Kreißsaal sollte geputzt werden. Auf den Platz in diesem Kreißsaal wartete bereits eine stark mit Wehen belastete Frau unter Geburt in der Entspannungswanne. Ich wollte ihn gerade putzen lassen, da hörte ich laute Rufe der Ärzte aus dem CTG-Zimmer: Die Herzfrequenz des Babys war stark abgefallen. Plötzlich kamen zwei Ärzte rechts und links mit der Patientin in ihrer Mitte eingehakt auf den Flur und riefen einen Notkaiserschnitt aus. Und jetzt?

Kein anderer Kreißsaal war frei, der OP besetzt. Nur der eine Kreißsaal mit einem völlig blutverschmierten Kreißbett einer anderen Patientin war nicht belegt. Das rief ich den Ärzten zu. Ihre Antwort lautete: „Wirf einfach Laken drüber.“ Schon wurde die Patientin auf das Kreißbett „manövriert“. In aller Deutlichkeit heißt das: Sie musste – mit weit aufgerissenen Augen, sichtbar schockiert und mit nackten Füßen – über den Flur zu ihrem eigenen Notkaiserschnitt laufen. (…)

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(Foto: Johannes Hör)

Ich musste Abendbrot verteilen (…). In das erste Zimmer komm ich rein und bringe das Tablett und ich sehe, dass der Patient zappelt auf dem Bett und ich frag ihn: „Ist Ihnen kalt?“ und der Bettnachbar sagt: „Nein, dem geht’s nicht gut, wir haben schon geklingelt, aber leider kommt keiner.“ Und dann habe ich zu der Pflege in dem Rondell gesagt: „Hallo, kommt schnell, hier muss jemand kommen.“ Die Schwestern waren unter Stress, sehr schlecht besetzt, machten gerade die Insulinspritzen fertig für die Diabetiker und sie sagten, „Nein, warte, wir haben jetzt keine Zeit.“

Ich sagte, dass der Patient ganz doll zappelt auf dem Bett und auch schon geklingelt hat, dann haben sie alles stehengelassen und sind ins Zimmer gegangen. (…) Ich habe schnell Platz gemacht, mit meinem Essenswagen, (…) und ich glaube, sie haben den Patienten reanimiert. (…) Ich kann das nicht so gut sehen, weil ich dann nicht schlafen kann, wenn so etwas passiert. (…)

290204 20220707 DemoEssen PeterKoester Patienten - Druck, Drohungen, Verzweiflung, Schuldgefühle - Arbeitskämpfe, Entlastung, Krankenhaus, Streik, Tarifkämpfe - Wirtschaft & Soziales
(Foto: Peter Köster)

7 Uhr Arbeitsbeginn – E-Mails checken und sortieren. Heute stehen sechs Aufnahmen auf dem elektiven Aufnahmeplan. Fünf Patienten müssen von einer anderen Station übernommen werden. Entlassungen wurden nicht viele gemeldet.

Und schon hast du wieder diesen Druck, einen hervorragenden Bettenplan zu erstellen, allerdings weißt du, der Plan geht nicht auf. Alle Patienten können nicht untergebracht werden. Nun entscheidet der/die zuständige Arzt/Ärztin, welcher Patient aufgenommen werden soll. Nehmen wir den gesetzlich versicherten Patienten mit dem Verdacht auf eine schwere Erkrankung auf oder nehmen wir den privat versicherten Patienten auf, der alle drei Monate zur Verlaufkontrolle für ein MRT kommt?

So wie befürchtet, der privat versicherte Patient soll aufgenommen werden und damit unser täglich Brot – es zählt nicht der Mensch mit seiner Erkrankung. Es zählt, wieviel Geld wir an den Patienten verdienen.

Und nun folgt der Anruf – in dem ich den nicht privat versicherten Patienten anlügen muss und sagen muss, heute haben wir kein freies Bett, zu viele Notfälle. Die Reaktion des Patienten ist die übliche. Verzweiflung, sauer, Drohungen, dass ich Schuld daran habe, dass ihm nicht geholfen wird. Ich schuld daran habe, dass der Mensch sterben kann …

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"Druck, Drohungen, Verzweiflung, Schuldgefühle", UZ vom 22. Juli 2022



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