Das Bundesinnenministerium definiert politisches Strafrecht als Handlungen, „die einen oder mehrere Straftatbestände der sogenannten klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann“. Abweichende Meinungen, vermeintlich staatsgefährdende Zusammenschlüsse, gefährliche Worte, Symbole und Bilder – ermittelt wird immer. Bestraft wird, wenn auch die Gesinnung dazu passt.
Die Staatsschutzdelikte sind über das ganze Strafgesetzbuch (StGB) verstreut. Sie liefern das Raster zum Auftakt jeder Ermittlung. Im Januar 2001 einigten sich Strafverfolger und Geheimdienste auf ein einheitliches „Definitionssystem politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) – die Betriebsanleitung zur lückenlosen Erfassung politisch verdächtiger Verhaltensweisen. Über den „Kriminalpolizeilichen Meldedienst“ (KPMD) wandern die von der Polizei vor Ort erstellten Meldebögen zur Weiterbearbeitung an die Fachdezernate der Politischen Polizei. Dort kümmert man sich um Verdachtsfälle wie den Regensburger Bäckermeister, der im Oktober 2022 Gebäck mit dem Anfangsbuchstabens seines Nachnamens („Z“) verzierte, oder um den Kriegsgegner Kay Strathus, der auf Facebook Zweifel an der offiziellen Diktion zu den Ursachen des Krieges in der Ukraine äußerte („Billigung des russischen Angriffskrieges“). In der jährlich aktualisierten PMK-Statistik werden alle Staatsschutzsachen nach Zahl und Qualität erfasst. 2022 sind hier 1.169 Ermittlungsverfahren allein zu Paragraf 140 StGB verzeichnet, die Gesamtzahl der Verfahren geht in die Zehntausende. Über die Kategorien der PMK macht der Staatsapparat die Notwendigkeit der Verfolgung dieser Fälle für sich griffig. Er konstituiert ein Sonderrecht, ein Feindstrafrecht – frei nach der Devise „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“. Der Begriff „Feindstrafrecht“ tauchte in der Kriminalpolitik zum ersten Mal in den frühen 1990er Jahren auf. Schon damals waren die Zielsetzungen eines reaktionären Staatsumbaus klar: die Ausdehnung der Strafbarkeiten durch neu inkriminierte Handlungsweisen und Verwendung mehrdeutiger Begriffe, die Vorverlagerung der Verfolgung vom Schaden auf die Gefahr des Schadens, vom Versuch einer Tat auf deren Vorbereitung sowie die Verschärfung der Strafen und Missachtung traditioneller Prinzipien des Strafverfahrens. Der bürgerliche Staat verzichtet zunehmend auf rechtsstaatliche Feigenblätter und gewährt freizügig Einblick in sein Droh- und Verfolgungsinstrumentarium.
Gewollte Entwicklung
Kritik an dieser Verschiebung ist an den Universitäten – und im Justizapparat sowieso – rar. Das politische Strafrecht teilt die Natur des Rechts selbst, das allenfalls „neutral“ scheint, es aber nicht ist. Wer würde ernsthaft behaupten, die Bestrafung eines 78-jährigen Rentners aus Bayern, der im Müllcontainer eines Supermarkts nach Essensresten suchte, hätte rein gar nichts mit der forcierten Eigentumsordnung des kapitalistischen Staates zu tun? Wer hielte den Freispruch für zwei CSU-Abgeordnete, die für die Vermittlung millionenschwerer Maskengeschäfte hunderttausende Euro einstrichen, für einen anschaulichen Beweis einer neutralen Justiz? Fragen nach dem Warum sind dem staatstreuen Juristen stets unangenehm, erfordert doch die Antwort das Verlassen des betonierten Kleingeheges des Gesetzestextes.
Sein juristisches Selbstverständnis zieht der bundesdeutsche Staat aus einer 90 Jahre alten Legende. Hans Kelsen schrieb 1934 in seinem Grundwerk „Reine Rechtslehre“, das Recht gelte „so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifizieren“. Kurz: Es gilt, was im Gesetz steht; Fragen nach der „Richtigkeit“ – also dem politischen, historischen und gesellschaftlichen Kontext – sind obsolet. Justitia ist hier auch ohne Augenbinde blind, das Gesetz eine in unbiegsames Metall gestanzte Schablone, der Richter ein gut geölter Entscheidungsautomat. Kein Amtsrichter, der sich um die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges kümmern muss, kein Staatsanwalt, der einen Gedanken darauf zu verschwenden hat, weshalb Menschen im Müll nach Essbarem suchen. Die Mär vom „neutralen Recht“ verhilft den herrschenden Interessen zur freien Hand und ungehinderter Definitionsmacht.
Gesetze aber fallen weder vom Himmel noch sind sie Ausdruck einer über die herrschenden Interessen erhabenen Vernunft. Sie sind als zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Überbaus Abstraktion der Wirklichkeit, genuiner Ausdruck der Produktions- und Interessenverhältnisse. Im stetigen Fluss der Anpassung sind sie nur zum Teil deckungsgleich mit der Wirklichkeit – meist sind sie ihr voraus, zuweilen hinken sie ihr hinterher.
Geronnene Kräfteverhältnisse
Die deutsche Strafgesetzgebung und umso mehr das politische Strafrecht war und ist ein Gradmesser innenpolitischer, auch weltpolitischer Entwicklungen und Kräfteverhältnisse. Die ersten Jahre Westdeutschlands standen im Zeichen von Revanchismus und NATO-Eingliederung. Das bezeugen die damit einhergehende Kriminalisierung der Wiederbewaffnungsgegner und die Verbotsverfahren gegen die FDJ 1951 und gegen die KPD 1956. Der Staats- und Justizapparat brachte frühzeitig – ohne Maß, dafür aber mit klarem Ziel – „sein“ Recht im Sinne „unerlässlicher Bestimmungen gegen den Staatsfeind“ in Stellung. Die gleiche Justiz, die Haftstrafen fürs Flugblattverteilen verhängte, ließ alle 5.243 Todesurteile der juristisch examinierten Mörder des Volksgerichtshofs ungesühnt.
Von der heutigen Regelungsdichte war das Strafrecht der 1950er Jahre weit entfernt. Mittel der Wahl im Staatsschutz waren Hochverrat und Landesverrat. Beide haben im StGB bis heute überwintert, werden derzeit aber nicht gebraucht. Verschärfungen bestehender und fantasievolle Erfindungen neuer Staatsschutzvarianten sorgen inzwischen für ein breites Netz der Verfolgung. Die Blaupause hierfür sind die im Juni 1968 in Kraft getretenen Notstandsgesetze. Die Neufassung von 28 Artikeln des Grundgesetzes, ein Fünftel seines Bestandes, setzte sämtliche individuellen Freiheitsrechte für den Fall des „inneren Notstands“ sowie im Kriegs- und Katastrophenfall weitgehend außer Kraft. Acht Jahre später kreierte der Gesetzgeber einen neuen Straftatbestand, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; ein Jahr später folgte das Kontaktsperregesetz. Damit zog die vorverlegte Bekämpfung des „Symphathisantenumfelds“ ins Strafrecht ein.
Beschleunigte Verschärfung
Im Gefolge des 11. September 2001 traten im Windschatten des „US-Krieges gegen den Terror“ die „Sicherheitspakete I – IV“ (2001 bis 2016) in Kraft. Sie liefen zwar unter der Überschrift „Bekämpfung des Islamismus“, richteten sich aber inhaltlich gegen alle Organisationen, deren „Ziele oder Aktivitäten auf Straftaten abzielen und der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen“. Seit 2017 beobachten wir die gesetzgeberische „Feinarbeit“, zumeist durch Einfügung neuer Absätze in bestehende Gesetze. Inzwischen jagt ein Änderungsgesetz das nächste – eine Entwicklung, die nicht nur auf die Staatsschutzdelikte beschränkt ist. Ausbau der Kriminalisierung und der Kahlschlag prozessualer Verteidigungsrechte sind zur juristischen Alltagserscheinung geworden. Das „60. Strafgesetzbuchänderungsgesetz“ vom 30. November 2020 vergrößerte die tatbestandliche Reichweite der Paragrafen 86 und 86a StGB (Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda/Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen). Der Staatsanwalt wird schon dann tätig, wenn „Propagandamittel“ im In- oder Ausland lediglich „wahrnehmbar“ verwendet oder verbreitet werden. Wenige Monate nach dieser Novelle legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein Gutachten vor, wonach Paragraf 86a StGB „infolge ihres Parteiverbots die Symbole der KPD“ ebenso erfasse wie Symbole der 1951 verbotenen FDJ, allerdings beschränkt auf das Gebiet der alten Bundesländer.
Im April 2021 erhielt Paragraf 140 StGB neuen Schliff: Bestraft wird seither auch, wer eine erst für die Zukunft zu erwartende Straftat billigt. Seit März letzten Jahres dient dieses Gesetz als Allzweckwaffe gegen alle, die ihre Zweifel an der offiziell kolportierten Ursache des Ukraine-Krieges öffentlich machen. Den jüngsten Akt der Kriminalisierung abweichender und unbequemer Meinungen markiert die Neuschöpfung des Paragrafen 130 Absatz 5 StGB, der am 9. Dezember 2022 in Kraft trat.
Ergänzend zum StGB verzeichnet das Strafverfahrensrecht seit 2017 in Summe 54 Änderungen, 150 Einzelnormen waren betroffen. Den radikalsten Einschnitt in althergebrachte prozessuale Rechte brachten zwei Gesetzesnovellen mit sich: das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ (ÜbwRÄndG) vom 17. August 2017 und das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ (StraVMoG) vom 10. Dezember 2019. Das ÜbwRÄndG änderte mit einem Federstrich über 50 Einzelnormen der Strafprozessordnung (StPO). Es erschwert die Ablehnung eines Strafrichters wegen Befangenheit, erleichtert Blutprobenentnahmen, lässt die DNA-Reihenuntersuchung zu, erlaubt die Überwachung von Telefongesprächen, die übers Internet geführt werden, und gestattet die Infektion elektronischer Endgeräte mit polizeilicher Ausspähsoftware. Der neu gefasste Paragraf 163 StPO nimmt Zeugen das Recht, die Teilnahme an polizeilichen Vernehmungen zu verweigern. Durch das StraVMoG wurden 21 Einzelnormen der StPO geändert: Diese umfassen neue Hürden bei der Rüge einer falschen Gerichtsbesetzung und die Ausdehnung polizeilicher Ermittlungs- und Datenübertragungsbefugnisse; Beweisanträge können mit der Begründung einer vermuteten „Verschleppungsabsicht“ des Angeklagten leichter abgelehnt werden. Selbst der ansonsten handzahme Deutsche Anwaltverein (DAV) protestierte: Jede Ausübung verfassungsmäßig verbürgter Antragsrechte gerate nun „unter den Generalverdacht der Prozesssabotage“.
Verschärfte Polizeigesetze
Während StGB und StPO die Strafverfolgung (Repression) des Bundes regeln, ist die Abwehr von „Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (Prävention) Sache der Länder. Was für die Repression gut ist, ist für die Prävention billig. Zug um Zug wurden mit der Verschärfung der Polizeigesetze seit 2017 die Überwachungsmaßnahmen im präventiven Bereich ausgebaut und die Polizei aufgerüstet: Handgranaten, Explosivmittel und Maschinenpistolen, Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Präventivüberwachung der Telekommunikation, Rasterfahndung, Online-Durchsuchung, Ausweitung der Aufenthaltsvorgaben, Kontaktverbot, elektronische Fußfessel und Bodycams. Aktuell steht die flächendeckende Luftraumüberwachung von Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen durch Drohnen an. Gestützt auf Gesichtserkennungssoftware kann die Bereitschaftspolizei bereits heute jeden beliebigen Kundgebungsteilnehmer aus der Menge heraus individualisieren. 2022 führte die Bundespolizei 7.697 biometrische Bildrecherchen durch, die in 2.853 Identifizierungen mündeten. Dass die Bundesländer all diese Maßnahmen unkoordiniert ausführen würden, ist ein Irrglaube. Zwar soll nach Artikel 30 Grundgesetz die „Ausübung und Erfüllung staatlicher Befugnisse Sache der Länder“ sein, doch schon 1951 starb diese Idee der föderalen Aufspaltung des Polizeiapparats durch die Schaffung des Bundesgrenzschutzes, heute Bundespolizei.
Drei Jahre später, als zum ersten Mal die Chefs der Innenressorts in der „Ständigen Konferenz der Innenminister und Innensenatoren der Länder“ (IMK) zusammentraten, war das Feld der Polizeivereinheitlichung vollends bestellt. An der Verfassung vorbei schuf der Staat ein Gremium, das fortan zweimal jährlich zusammentritt, einen eigenen Apparat von ständigen „Arbeitsgruppen“ unterhält und sich mit der Konferenz der Justizminister (JuMiKo) koordiniert. Jede Änderung des Polizeirechts wird im „Arbeitskreis II“ (Innere Sicherheit und Gefahrenabwehr) vorbereitet und den Ländern als „Ratschlag“ zur Durchführung „empfohlen“. Den Generalplan zum Umbau des Polizeiapparats bildet der von der IMK im November 1977 elaborierte „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes“ (MEPolG). Bereits 2008 war hier von der Aufrüstung der Polizei mit „Schlagstock, Pistole, Revolver, Gewehr, Maschinenpistole, Maschinengewehr und Handgranaten“ die Rede.
Der „Musterentwurf“ unterläuft das Grundgesetz, hat keine Gesetzeskraft, gilt aber mit seinen 87 Einzelregelungen als „rechtspolitisches Planungsinstrument“. Sämtliche Verschärfungen des Polizeirechts beruhen also auf einem Papier, das es verfassungsrechtlich gar nicht geben dürfte – getextet von Beamten einer Institution, der jegliche Legitimation durch die Verfassung fehlt. In den Abteilungen der IMK und der JuMiKo liegen auch die Baupläne zukünftiger Feindstrafrechtsnovellen in Bund und Ländern. Diese Pläne lassen sich ahnen – sehen kann man sie nicht, denn – wie es auf der Internetseite der IMK heißt – „die sicherheitspolitischen Aufgabenstellungen der Innenressorts zwingen immer wieder dazu, von einer Veröffentlichung der gefassten Beschlüsse und vor allem der Berichte abzusehen“.