Es war ein Schock, als im März 2013 Bewaffnete der al-Nusra-Front al-Raqqa einnahmen. Damit war die Hauptstadt einer syrischen Provinz in die Hände der Dschihadisten gefallen.
Al-Raqqa war zuvor ein Hort der Stabilität. Lokale Übereinkünfte und Vereinbarungen mit Stämmen hielten den Krieg fern von der Stadt. Einzig die Flüchtlinge, die zu Zehntausenden Zuflucht in der Stadt suchten, machten die Nähe des Krieges deutlich. Die syrische Armee versuchte vor allem, die Bevölkerungszentren im Westen des Landes zu schützen – für die Dschihadisten war al-Raqqa damit eine leichte Beute. Zunächst übernahm al-Nusra die Macht in der Stadt. Es folgten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen dschihadistischen Fraktionen, bis im März 2014 der IS die volle Kontrolle über die Stadt übernahm.
Die Organisation „Adopt a Revolution“ führte damals eine Rundreise mit Vertreterinnen der „syrischen Opposition“ aus al-Raqqa durch und wollte die Eroberung der Stadt durch die Dschihadisten als Befreiung verkaufen. Doch diese Träume erwiesen sich bald als Alptraum. Die syrische Armee war mit der Verteidigung der Bevölkerungszentren überlastet und konnte keine Kräfte einsetzen, um Raqqa zurückzuerobern. Es bildete sich eine Demarkationslinie zwischen den Einflussgebieten, die man durchaus passieren konnte, es fuhren sogar Busse.
Der türkische Journalist Fehim Tasteki ließ in einem Artikel einen Unternehmer aus Raqqa die Macht der Dschihadisten beschreiben: „Mit den Einnahmen aus den Erdölgeschäften und den eingesammelten Geldern zahlen sie an 25 000 bis 30 000 Gefolgsleute Gehälter … Die Produktionsstätten sind fest in deren Händen … Es gibt unter den Aktivisten Türken, viele Saudis, Algerier und Tunesier. Unter den ausländischen ISIS-Frauen bilden die Tunesierinnen mit 90 Prozent die größte Gruppe.“
Als in diesem Jahr die irakischen Streitkräfte Mossul eroberten, blieb Raqqa als wichtigste Stadt im schrumpfenden Einflussgebiet des IS. Doch nicht nur für den IS war es die wichtigste Stadt. Nachdem die syrische Armee Aleppo befreit hatte, wurde Raqqa auch für die USA zum zentralen Ziel, um überhaupt einen Zugriff in Syrien zu erhalten. Zusammen mit ihren Verbündeten der „Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) versuchen sie, den IS zu vertreiben und die Stadt zu übernehmen. Dabei agieren die SDF als Bodentruppen, die USA unterstützen sie mit Luftangriffen, Artillerie und Spezialkräften.
Seit dem 6. Juni kämpfen die überwiegend kurdischen SDF im Stadtgebiet selbst. Möglichst schnell soll die Stadt erobert werden, denn es geht auch darum, den Einfluss der syrischen Armee zu begrenzen, die ebenfalls im Euphrat-Tal aktiv ist und sich der belagerten Stadt Deir Ezzor nähert. So werden Einrichtungen der Infrastruktur und große Teile der Stadt von US-Artillerie und durch Angriffe der US-Luftwaffe in Trümmer gelegt – wie zuvor schon Mossul im Irak. Auch vor dem Einsatz von chemischen Kampfstoffen – Weißer Phosphor – schreckt die US-Luftwaffe nicht zurück.
Die Mitteilung von Unicef, dass bis zu 50 000 Menschen in Raqqa eingeschlossen sind, davon die Hälfte Kinder, ist selbst schon Ausdruck einer humanitären Katastrophe. Denn es bedeutet, dass Zehntausende flüchten mussten – und viele schon zum zweiten oder dritten Mal auf der Flucht vor dem Krieg sind.
Zwischen den SDF und ihren US-Verbündeten und der syrischen Armee gibt es nur gelegentlich Konflikte. Vorerst begrenzt der Euphrat die jeweiligen Einflusssphären. Aber von einer Zusammenarbeit gegen den IS kann keine Rede sein.
Es gibt Stammesorganisationen, die mit Armee und Regierung zusammenarbeiten, andere, die mit den SDF und den USA zusammenarbeiten. Massive US-Luft- und Artillerieangriffe zerstören – gegen den erklärten Willen der syrischen Regierung – die Infrastruktur.
Im März 2013 nahmen Bewaffnete der al-Nusra Front al-Raqqa ein. Die syrische Regierung und viele der Einwohner werden sich nicht damit abfinden, wenn nun US-Spezialkräfte und die SDF die Stadt besetzen werden. Der stellvertretende syrische Außenminister Fayssal Mikdad erklärte, eine lokale Stadtverwaltung würde nur anerkannt, soweit es die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung betrifft.