Formierungsvarianten des staatsmonopolistischen Kapitalismus: Staatliche Technokraten, kleinbürgerliche Wirrköpfe und antideutsche Scharfmacher

Dreierlei Einerlei

Im Jahr 1965 schrieb ein junger Mann eine Artikelreihe in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ gegen Überlegungen des rechten Flügels der CDU. Ludwig Erhard hatte sein Konzept der „formierten Gesellschaft“ vorgelegt. Es sollten sich all jene, die schädliche „Einzelinteressen“ vertreten, denen unterordnen, die aufgrund ihrer Größe und Bedeutung das „Allgemeininteresse“ verkörpern. Der junge Mann, kurz zuvor in die illegale KPD eingetreten und von dieser mit der Arbeit in der antifaschistischen und Friedensbewegung beauftragt, enthüllte, dass mit den Einzelinteressen diejenigen der Arbeiterklasse und der anderen nichtmonopolistischen Schichten gemeint waren, während die Interessen des Monopolkapitals als Gesamtinteresse gesetzt wurden. Dieses sollte der bürgerliche Staat zunehmend anerkennen und – besonders gegen aufmüpfige Studenten und die damals kämpferisch agierende IG Metall – durchsetzen. Der junge Mann, der diesen demokratisch klingenden Plan entzauberte und damit ins Blickfeld der demokratischen Kräfte rückte, hieß Reinhard Opitz.

Formierung und Faschisierung

Er setzte den Begriff der Formierung in das Analysearsenal der demokratischen Kräfte ein. Fortan unterscheiden wir in den Strategien der herrschenden Klasse zwischen einer Formierungsstrategie, die im Wesentlichen die freiwillige, ideologisch begründete Unterordnung der Volksmassen unter die Interessen des Monopolkapitals meint, und der Faschisierung, die auf die zwangsweise Unterordnung abzielt. Dabei ist nicht die eine friedlich und die andere gewalttätig: Zur Formierung gehörten die Notstandsgesetze und die Nutzung der 1968 gegründeten NPD. Die Differenz ist folgende: Im Falle der Freiwilligkeit der Bevölkerungsmehrheit bleiben die Instanzen, in denen verschiedene Kapitalgruppen ihre Interessen untereinander austarieren können, zum Beispiel das bürgerliche Parlament, intakt. So können die Monopolgruppen Widersprüche in geregelten Formen austragen, es bleibt also bei der gemeinsamen Herrschaft. Im Falle einer Faschisierungsstrategie zerschlägt man selbst die bürgerlichen Oppositionsparteien und damit die Möglichkeiten der Konfliktlösung innerhalb des Staatsapparates. Es ist damit auch keine Massenbasis auf parlamentarischer Ebene mehr möglich. Es bedarf damit meist einer neuen Massenbasis für die Aufrichtung der als „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Kommunistische Internationale, 1935) bestimmten faschistischen Diktatur. In diesem Sinne differenziert auch der Leitantrag des 23. Parteitags der DKP diese Begriffe.

Kapitalinteresse und staatliche Technokraten

Die ökonomische Krise war bereits im Kommen, als für die Monopole mit der Corona-Pandemie eine öffentliche Legitimation bestand, staatliche Gelder zu beziehen, um die Produktion stillzulegen und Überkapazitäten abzubauen. Besonders die Automobilkonzerne nutzten diese Möglichkeit weidlich. Kombiniert wurde das mit einem großangelegten Angriff auf tarifliche Standards, Beispiele: Einführung der Kurzarbeit im öffentlichen Dienst und die Forderungsliste des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall. In einem Strategiepapier machte der auf: Kürzung der Zuschüsse des Kurzarbeitergeldes, von Schichtzuschlägen, Beschäftigte sollen für Arbeitsschutz gegen Corona zahlen und so weiter.

Auf den Beschäftigten lastet der Druck der Krisenabwälzung. Das Ganze wurde durch den Staat flankiert: seit Anfang April sind in einigen Bereichen 12-Stunden-Arbeitstage möglich. Die Situation in den Schlachthöfen spricht für sich. Bereits jetzt haben die Deutsche Bahn, die Deutsche Bank und Karstadt Stellenabbau angekündigt. „Die Krise“, durch die „wir“ nun hindurchmüssen, ist dabei die Begründung für diese Angriffe.

Auch im Falle der Impfstoff-Diskussion zeigen sich deutlich die Widersprüche. Zum einen wird der Impfstoff gehypt, als sei er der Erretter, zum anderen wird die angebotene Hilfe der Volksrepublik China, das die meiste Erfahrung im Umgang mit dem Virus hat, abgelehnt. Auch auf das Medikament aus Kuba, welches erfolgreich vor allem zur Prävention bei Pflegekräften eingesetzt wurde, wird verzichtet. Wir würden ja nicht erwarten, dass der deutsche Imperialismus beide Länder nun mag, aber zum Schutz der Bevölkerung könnte er schon Hilfe annehmen. Dass er das nicht tut, zeigte, wie sehr die Interessen an Aggression vor allem gegen China über dem Interesse an Gesundheitsschutz der Bevölkerung stehen. Gleichzeitig wird über die Anschaffung von Atomwaffen diskutiert und die Parlamente stimmen immer weitergehenden Maßnahmen zu ihrer eigenen Entmachtung zu: Regiert wird mittels ministerieller Erlasse. Damit und mit der Einschränkung demokratischer Grundrechte werden der Arbeiterklasse und den anderen nichtmonopolistischen Schichten wesentliche Möglichkeiten genommen: Druck, vor allem von außen, auf die Parlamente auszuüben.

Fehlende Widerstandsperspektive

Innerhalb der Familien erhöht sich der Stress und damit das Gewaltpotenzial um ein Vielfaches, vor allem durch die Kombination von Wohnraummangel, Home-Office, Home-Schooling und den Wegfall von Betreuungs- und Beratungsangeboten für Familien mit Kindern. Überall hier ist der Gegner nicht sichtbar für die betroffenen Arbeiter und Angestellten, für die von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder. Kaum eine relevante Kraft benennt den Gegner derzeit konkret. Es können folglich keine erfolgreichen Kämpfe entwickelt, der Isolation und Verunsicherung keine kämpferische, die Handlungsfähigkeit wieder herstellende Vertretung der eigenen Interessen entgegengestellt werden. Die widerspruchsarme Unterordnung der Linkspartei und der Gewerkschaften tut dabei ihr Übriges, siehe die Nullrunde der Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie. So hat die berechtigte Wut, die ökonomisch bedingte Unsicherheit und die durchaus demokratische Abwehrhaltung gegen diesen Staat keine Widerstandsperspektive.
Die Unterordnung unter die staatliche Gewalt und die durch sie vertretenen Interessen der Monopole erscheint lückenlos, damit ist die derzeitige Hauptorientierung der deutschen Monopole auf die freiwillige Unterordnung der Volksmassen sehr erfolgreich. Abgesichert wird sie trotzdem durch die Einschränkung der Grundrechte. Wundert man sich da, dass diese fast vollkommene Formierung als Verschwörung wahrgenommen wird?

Hygienedemos – Auffanglinie für Protest

Genau an dieses Fehlen einer Widerstandsperspektive knüpfen die Hygienedemos an. Mitte April breiteten sie sich aus, zuerst in Berlin, dann im Rest der Republik. Die Zusammensetzung dieser Demos ist heterogen. In ihnen dominiert von Lebenslage und Ideologie das Kleinbürgertum. Stutzig machen sollte die Schnelligkeit, in der die Bewegung entsteht und wächst. Binnen kürzester Zeit erscheint die Zeitschrift „Demokratischer Widerstand“ in einer Auflage von 30.000 Stück. Für eine gerade neu erschienene Zeitschrift ist das enorm. Bei der Stuttgarter Kundgebung mit 10.000 Teilnehmenden waren 1.000 Ordner im Einsatz und einiges an Equipment aufgefahren. Zu Recht wurde bei den Fridays-for-Future-Demos darauf hingewiesen, dass die Annahme, solche Logistik käme einfach aus dem Nichts, äußerst naiv ist. Hinweise für eine Nähe zur AfD gibt es: Die Partei „Widerstand 2020“ wurde unter der gleichen Adresse gemeldet wie der niedersächsische Landesverband der AfD.

Die politische Diffusität der Forderungen der Protestierenden, die sich scheinbar widerspruchslos mit der Reichskriegsflagge in der Hand auf das Grundgesetz berufen, ist gewollt und bewusst. Dem Demagogiemodell soll es gelingen, abgehängte Kleinunternehmer, kleinbürgerliche Impfgegner und von den Gewerkschaften Enttäuschte einzufangen. Eine klare, eindeutige Botschaft würde dabei nur schaden.

Die Gegner bleiben dabei abstrakt: „Die Eliten“ oder wahlweise Bill Gates oder seine Stiftung. Ebenso sind die positiven Bezugspunkte dieser Demonstrationen diffus: „Die Menschen“, das Grundgesetz, die deutschen Unternehmer, die wieder öffnen wollen. Auch hier erscheint wieder ein „Wir“, aber einmal als aggressiv nach außen gerichtetes „Wir“ von Arbeit und Kapital – man könnte es Volksgemeinschaft nennen. Zum anderen als ein „Wir“ der Individuen, die es besser wissen als die Gemeinschaft, die dumme Masse. Ideologisch schließen beide Formen des „Wir“ an den philosophischen Wegbereiter des Faschismus Nietzsche an, der ebenfalls diffuse Elitekritik betrieben hat: „Ein Politiker teilt die Menschheit in zwei Klassen ein: Werkzeuge und Feinde.“

Aber organisierte Faschisten werden nicht aktiv, wo es keine berechtigte Wut aufzugreifen und zu Gunsten des großen Kapitals umzulenken gilt.

Antideutsch-massenfeindliche Gegenproteste

Faschistische Gruppierungen treten nicht ohne Grund auf den Plan, sondern sind gesetzmäßiger Bestandteil der Ablenkungsstrategien der herrschenden Klasse unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie im Imperialismus. Diesen Kräften in die Parade zu fallen ist Teilaufgabe der fortschrittlichen Kräfte. Und dafür müssen die dort auftretenden faschistischen Kräfte isoliert, von ihren Wirkungsmöglichkeiten abgeschnitten werden.

So wird es sicherlich nichts: „Widerstand ist Antifa. Durchgeimpft und Wunderbar“ zeigte eine antideutsche Antifa-Gruppe auf einer Gegenkundgebung. Auf den Hygiene-Demos wird der technokratischen, undemokratischen, weil im Interesse der Monopole liegenden Regierungspolitik Misstrauen entgegengebracht, das sich unter anderem in der Gegnerschaft zum Impfen ausdrückt. Sicher ist das eine kleinbürgerliche Reaktion auf die staatliche Unterdrückung und eine individuelle Lösung, aber ist sie das Problem? Das Problem sind nicht verdrehte Kleinbürger, die ihre berechtigten Ängste nicht anders ausdrücken können, sondern die Monopole, die diese ausbeuten, ihr Staat, der sie unterdrückt und die faschistischen Kader, die den Protest ablenken.

„Während sich Viren leicht in schwachen Körpern ausbreiten, passiert das gleiche mit Verschwörungstheorien in schwachen Geistern. Besonders wenn Antikörper in Form von Bildung fehlen“, heißt es in einem in gleichen Kreisen kursierenden Meme (ein Bild mit Text, das im Internet verbreitet wird). Es fügt der falschen Gegnerbeschreibung die Massenverachtung hinzu. Da blühen dann auch auf Seiten der „Gegenproteste“ zentrale Inhalte der Nietzsche-Philosophie auf. „Denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt, edel‘.“

Das wiederum passt sehr gut in den Kram der Monopole und ihres Staates: Wenn die Menschen das Problem sind, kann man besser begründen, sie von den formalen Strukturen der Demokratie auszuschließen.

Genau das ist aber – erneut – die Grundfrage, vor der Antifaschisten stehen. Entweder wollen wir die Menschen für die Erhaltung und Erweiterung ihrer Rechte organisieren oder wir halten sie alle für dumm und tendenziell rassistisch und wollen sie zusammen mit dem Staat der Monopole bekämpfen. Es braucht keine Massenverachtung, es braucht die geduldige Überzeugungsarbeit. Und die Linie dazu? Steht in den Forderungen der DKP zur Corona-Krise.

„Die linken und demokratischen Kräfte sollten sich nicht gegen diese Proteste richten, sondern ihren Protest lauter als bisher vortragen“, analysiert Lucas Zeise vollkommen richtig (UZ, 22. 5). Dem wäre nur hinzuzufügen, dass es eine Kampfperspektive für die in Not geratenen Kleinbürger, auf die die faschistische Demagogie abzielt, nur an der Seite der kämpfenden Arbeiterklasse geben kann.

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"Dreierlei Einerlei", UZ vom 5. Juni 2020



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