Gut, dass wir Qualitätsblätter haben, die uns täglich Neues vermitteln. Da gibt es zum Beispiel die „Rheinische Post“ (RP) aus Düsseldorf. Sie teilt uns am 8. August mit: „Top-Ökonomen sprechen sich für Rente mit 70 aus.“ Endlich mal keine Fake-News, sondern die nackte Wahrheit. Der Artikel unter dieser Überschrift stammt von Birgit Marschall, der Korrespondentin des rheinischen Blattes in Berlin. Bei den von ihr zitierten „Top-Ökonomen“ handelt es sich um Michael Hüther, seit vielen Jahren Chef des „Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)“, das den Unternehmerverbänden gehört, sowie um Marcel Fratzscher, seit 2013 Präsident des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)“ in Berlin. Beide lassen sich mit Ermahnungen an die Parteien zitieren, sie mögen die Bürger schon jetzt auf die „notwendige Erhöhung des Renteneintrittsalters von 67 auf 70 Jahre ab 2030“ einstimmen, wie Marschall beider Position zusammenfasst.
Hat Frau Marschall einen Anlass, um die Position der beiden Institutspräsidenten der erstaunten Öffentlichkeit zu präsentieren? Haben die Top-Ökonomen vielleicht neue Positionen eingenommen, vielleicht neue Begründungen für ihre Rente-mit-70-These entdeckt oder gab es in ihren Instituten frische Publikationen zum Thema? Nichts dergleichen. Von Hüther allerdings steht drei Tage später, am 11. August, ein „Gastkommentar“ im „Handelsblatt“, in dem er sich ähnlich, aber ausführlicher äußert als bei Marschall. So richtig frisch ist auch das nicht mehr. Schon am 2. 1. 2012 hat Hüther in einem Kommentar, ebenfalls im „Handelsblatt“, zum damals gerade frischen Jahr die Rente mit 70 gefordert. Vielleicht steckt das Neue ja darin, dass auch Fratzscher dieser Meinung ist. Er stehe, wie Frau Marschall schreibt, der SPD nahe, während Hüther „zum liberal-konservativen Lager“ gehöre.
Im Herbst vorigen Jahres, am 20. Oktober, konnte man in der „RP“ ein Interview Marschalls mit Fratzscher lesen, der es, wie sie damals launig und einleitend schrieb, nicht weit habe von seinem Institut zur Berliner Redaktionsstube der Düsseldorfer Zeitung. Es ging bei diesem Interview vorwiegend um Steuersenkungen. Aber Fratzscher sagte schon damals, dass das Renteneintrittsalter angehoben werden müsse. Frau Marschall oder die RP-Redaktion hoben die Aussage sogar in die Überschrift. Und das Interview wurde gelesen. Die Zeitschrift „Focus“ zweitverwertete Frau Marschalls Interview zur knalligen Überschrift „Erster Wirtschaftsforscher fordert Rente mit 71“. Man kann als erste Schlussfolgerung festhalten, dass die Nachricht, die Top-Ökonomen Hüther und Fratzscher träten für die Rente mit 70 ein, ungefähr den Neuigkeitswert hat wie eine Meldung in der UZ: „DKP spricht sich für den Sozialismus aus“.
Sicher wollen Leserin und Leser der UZ auch wissen, welche Argumente Hüther und Fratzscher für die alte Forderung nach der Rente mit 70 (oder 71…) laut RP vorbrachten. Es sind die alten Bekannten: Der deutsche Mensch lebt länger. Er muss also länger von der Rentenkasse durchgefüttert werden. Das leuchtet ein. Also wird das Argument in allen Variationen wiederholt. Alternativen zum späteren Rentenbeginn bleiben dagegen unerwähnt: Etwa die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Rente durch die Arbeitgeber oder die Öffnung der Rente für alle Erwerbstätige oder die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Unerwähnt bleibt auch die Tatsache, dass die Alterung der Gesellschaft ein schon lange dauernder Trend ist, der früher ohne weiteres bewältigt und finanziert worden ist. Fratzscher, Hüther und Marschall kennen diese Argumente bestens, aber sie haben gute Gründe, weshalb sie dauernd für eine Kümmerrente im späten Greisenalter eintreten.
Zweite und letzte Schlussfolgerung. Die drei sind Fans der privaten, kapitalgedeckten Rentensysteme. Sie lieben die Banken und Versicherungen und nehmen es deshalb auf sich, sich als notorische Langweiler zu präsentieren.