Dinçer Güçyeter findet seine Sprache, indem er die Geschichte seiner Mutter erzählt

Drehmaschine Nummer 630

Mesut Bayraktar

Das letzte Wort hat Fatma, die Frau in Arbeitskitteln. Sie blickt auf ihr Leben zurück und fragt, wie weit ein Baum seine Äste strecken könnte, wenn er ohne Wurzeln wäre. Natürlich, in der Verneinung liegt die Wahrheit. Ein Baum ohne Wurzeln ist kein Baum. Er kippt um und ist tot. Die Metapher erinnert an die welthistorische Sehnsucht der arbeitenden Klasse, wie sie der türkische Dichter Nâzım Hikmet für Generationen von Ausgebeuteten und Kämpfenden mit den berühmten Zeilen zusammenfaste: „Leben wie ein Baum, / einzeln und frei, / und geschwisterlich wie ein Wald, / das ist unsere Sehnsucht.“

Von solchem Geist ist der 2023 erschienene Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter durchdrungen. Aus dem Schweigen der Mutter „Literatur zu machen“, um auch dem Menschen Fatma Güçyeter und ihrer Klasse das Wort zu geben. Entstanden ist eine mehrstimmige Familiengeschichte zwischen Mutter und Sohn, wie sie selten in der deutschen Gegenwartsliteratur zu finden ist: realistisch, proletarisch, poetisch und vor allem originell. Güçyeter hat einen grandiosen Roman geschrieben.

Am Anfang jeder Geschichte steht ein naiver Idealismus. 1965 beginnt das Leben seiner Mutter, „in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann“. So hat man es Fatma Güçyeter erzählt. Doch die Realität und Arbeit straften solchen Erzählungen Lügen.

Sie arbeitet auf dem Feld bis in die Abendstunden, schneidet Spargel, schafft im Akkord bei der Pierburg-Fabrik in Nettetal. Nichts bewegt sich ohne Arbeit. Reichtum stellt sich nicht ein, trotz der Sparsamkeit, „das erste Gebot der sogenannten Gastarbeiterfamilien“. Schulden ziehen die Ketten der Not enger um ihre Muskeln und Knochen. Ihr Körper wird vom kapitalistischen Verwertungsprozess gänzlich vernutzt. Die Arztbesuche bleiben Flickwerk, die Gewerkschaften aufgrund ihres „Unvermögens“ untätig und die Politiker – sie „kennen keine Fabrikhallen, (…) keine müden Menschenkörper“. Reumütig stellt sie fest: „Unsere einzige Opposition war, mehr zu arbeiten.“ Die Kehrseite war das Verstummen. Das Rad konnte sich weiterdrehen.

Die Fremde aus dem Geburtsland setzt sich in Deutschland fort. Sie nimmt viele Albträume, viele Gestalten an, denen Güçyeter nachspürt. Sie steigert sich zum Rassismus, und der schlägt zu. Nachdem das antifaschistische Bollwerk im Osten zusammenbricht, ermorden Neonazis und Rassisten im Wissen um den bürgerlichen Staat im Rücken Menschen mit Migrationsgeschichte. Da ist der NSU, das sind die Morde in Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Köln, Hanau und anderen Orten. Auch das nennt Güçyeter beim Wort. Die Mutter erzählt es ihm. Mehr noch, Mutter und Sohn erinnern sich in einem Kapitel an die Türkeireise in den 1990ern durch den Balkan: Selbst, wenn die Presse „zögerlich“ war, „begingen die NATO-Soldaten, die damals als Befreier des Kriegsgebiets gefeiert wurden, ebenfalls Verbrechen“.

Und was war mit der Liebe, den Männern? Fatma Güçyeter weiß, fast alle „tragen ihr Gehirn im Schwanz“. Ein weiterer Grund, warum Güçyeter die Frauen sprechen lässt, ob jene aus der Nachbarschaft, vom Spargelfeld oder aus dem Bordell. Sie sprechen und Güçyeter beschreibt schamlos und direkt, das Tragische ebenso das Komische mit unzähligen Stilmitteln und Ausdrucksformen.

„Unser Deutschlandmärchen“ ist ein Gesprächsroman. Indem Fatma Güçyeter ihre Geschichte durch ihren Sohn erzählt, erzählt Dinçer Güçyeter seine Geschichte durch seine Mutter. Die Mutter bricht ihr Schweigen, der Sohn findet seine eigene Sprache.

Dinçer Güçyeter, der Erzähler, ist die andere Hauptfigur. Er arbeitet als Kind mit auf dem Feld. Mit sechzehn beginnt er seine Lehre im Werkzeugbau bei der Firma Pierburg. Nach der Arbeit fährt er mit dem Zug nach Köln, weil er an Theaterprojekten beteiligt ist. Er liest, er schreibt, als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, immer auf der Suche nach seiner eigenen Sprache, vom niederrheinischen Nettetal bis zur Galata-Brücke in Istanbul, der Weg zum dichtenden Arbeiter und dann gelingen ihm „Zeilen, die ihren Wert nicht in der Kunst, sondern mitten im Nabel des Alltags suchen“. Das ist ein Anspruch.

So zeigt Güçyeter, dass arbeitende Menschen ihre eigenen Gefühlslagen, ihren eigenen Körper, ihre eigenen Kämpfe, mehr noch, ein Recht auf Kunst und Kunstmachen nach eigenen Maßstäben haben. Jene aus einem Roman wie „Der Zauberberg“ wirken dagegen leblos und mickrig. „Egal, ob das zum Erfolg oder Misserfolg geführt hat, sehe ich mich immer als Arbeiter. Die Auftritte als Künstler, Dichter finde ich immer ein bisschen peinlich. Hab Jahre später Gedichte geschrieben und diese der Drehmaschine mit der Nummer 630, dem Schraubstock, der Bandsäge gewidmet.“ Davon zehrt das Feuer im Diwan seiner Poesie. Es wärmt die Sehnsucht, es bringt Stahl zum Schmelzen.

Dinçer Güçyeter
Unser Deutschlandmärchen
Verlag Mikrotext, 216 Seiten, 25 Euro

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"Drehmaschine Nummer 630", UZ vom 10. Mai 2024



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