3½ Stunden“ heißt der ARD-Film zum 60. Jahrestag des Mauerbaus und fühlt sich trotz seiner Länge von 95 Minuten auch so an. Man könnte sich die Zeit mit einem formidablen Trinkspiel versüßen: Jedes Mal, wenn einer schreit: „Die wollen uns einsperren!“ einen braunen, für jedes „Die bauen eine Mauer!“ einen weißen Schnaps. Nach 95 Minuten ist einem dann schlecht. Das ist allerdings auch ohne Alkohol der Fall.
Die Geschichte von „3½ Stunden“ ist schnell erzählt: Der Interzonenzug D 151 fährt am 13. August 1961 von München nach Berlin Ostbahnhof. Im Radio hören die Reisenden vom begonnenen Mauerbau. Dreieinhalb Stunden bleiben ihnen, um sich zu entscheiden: Leben in der DDR oder in Ludwigstadt aussteigen und das Glück im Westen suchen?
Der Film von Regisseur Ed Herzog (Buch: Robert Krause und Beate Frauenholz) ist sich seiner Sache so sicher, dass er es den Protagonisten der Geschichte erlaubt, ein paar gute Haare an der DDR zu lassen. Da darf der Musiker, als ihm sein Liebster ein wenig zu eindeutig an den Hintern fasst, sagen „Lass das, wir sind im Westen!“ (in der DDR war 1961 die Strafverfolgung nach dem Nazi-Paragrafen längst eingestellt), der Gitarrist der Band darf feststellen, dass man im Westen nicht von fünf Mark am Tag leben kann, und Marlis Kügler (Susanne Bormann), deren Vater das KZ überlebt hat und die selbst Kommunistin ist, darf ihrem Mann, der als Flugzeugingenieur unbedingt in der BRD bleiben will, entgegenschleudern dass diese „emanzipatorisch im Dritten Reich stecken geblieben“ sei. Und Ernst Melchior (Harry Täschner), der nicht mehr mit dem Sohn spricht, der „rübergemacht“ hat, darf nach dem Biss in die westdeutsche saure Gurke murmeln: „Unsere sind besser.“ Derweil wird von der DEFA ein Porträt über die Lokomotivführerin Edith gedreht (im Westen dürfen Frauen diesen Beruf nicht ergreifen und brauchen generell die Unterschrift ihres Ehemanns unter einem Arbeitsvertrag) und Marlis‘ Vater, NVA-Oberstleutnant, verzichtet auf den Einsatz von Panzern, um den Mauerbau gegen Provokateure abzusichern: „Wir lassen uns nicht provozieren.“
Trotzdem versucht Herzogs Film klar zu machen, dass die DDR das staatgewordene Böse ist. Da wird angstvoll geflüstert bei dem Gedanken, für immer in der DDR bleiben zu müssen, Kinder werden zum Leistungssport mit Doping versorgt und dann ist da ja auch noch das Lied von der Freiheit, das alle singen müssen. Wenn man für jedes Mal, dass dieses Wort fällt einen Schnaps nimmt, muss man den Film nicht bis zum Ende ertragen. Denn was ist schon die Freiheit, Arbeit, Selbstbestimmung und billige Mieten zu haben im Vergleich zu der Freiheit, sich Autos verschiedener Marken nicht leisten zu können?
Im Zug befindet sich auch Rudolf Hoffmann (Peter Schneider), der mit seiner Verlobten Ingrid und deren Sohn auf dem Weg zur Hochzeit in Ludwigstadt ist. Liebevoll kümmert er sich um den Jungen, den sie offensichtlich mit einem schwarzen GI hat, der kleine Hans freut sich auch sehr drauf, bald einen „neuen Papa“ zu bekommen. Leider wird der als einer der Lokführer der Züge nach Auschwitz erkannt. Als dann für die letzten Meter in die DDR dem Interzonenzug die Lokführerin fehlt, wird er sofort wieder zum „willigen Helfer“ und meldet sich freiwillig, um den Zug zu fahren. Passend zu der Rede, die Willy Brandt zwar erst am 16. August 1961 gehalten hat, die die Reisenden aus „3½ Stunden“ aber schon am 13. August hören dürfen und in der er verkündet, die Mauer sei „die Sperrwand eines Konzentrationslagers“, macht Herzog aus Hoffmann den willigen Vollstrecker zweier Diktaturen. Und dabei war er doch so lieb zu dem schwarzen Kind. Liberaler war Propaganda im Sinne der Totalitarismustheorie selten.
3 1/2 Stunden
Spielfilm, Deutschland 2021
Regie: Ed Herzog
Bis zum 6. September in der ARD-Mediathek