Je lauter international die Rufe nach einer Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt werden, desto verstockter und destruktiver geriert sich Präsident Wladimir Selenski in Kiew. Gerade erst hat das US-Außenpolitikmagazin „Foreign Affairs“ festgestellt, der Ukraine-Krieg werde nur über Gespräche beendet und die US-Regierung müsse hierfür die Weichen stellen. Klar sei, heißt es in dem Blatt, dass die westlichen Ukraine-Unterstützer über das Ende des Krieges mitzubestimmen hätten. Indonesiens Präsident Joko Widodo hat zwischenzeitlich für den G20-Gipfel der führenden Wirtschaftsmächte in der kommenden Woche auf der Insel Bali eine Friedensinitiative für die Ukraine angekündigt. Sein Land werde bei dem Gipfel alle dazu einladen, „sich zusammenzusetzen und sich in einen konstruktiven Dialog zu begeben“, kündigte Widodo in einer Videobotschaft zum Abschluss der internationalen Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin an. Dazu gehörten auch jene, die auf unterschiedlichen Seiten stünden. „Nur auf diesem Wege können wir eine starke Grundlage schaffen für den Wiederaufbauprozess der Ukraine.“ Friedensdiplomatie habe höchste Priorität, so Widodo weiter: „Der Krieg muss enden.“ Der Wiederaufbau und die Wiederherstellung der Wirtschaftskraft der Ukraine seien unmöglich, wenn der Krieg nicht ende. Die Interessen des ukrainischen Volkes stünden dabei an erster Stelle. Widodo wiederholte eindringlich: „Der Frieden muss unsere Priorität sein hinsichtlich der nächsten Schritte, die wir einleiten.“ Deutlicher könnte die Differenz zu den ständigen Rufen im Wertewesten nach immer neuen Waffenlieferungen nicht sein. Indonesiens Präsident spricht hier für den Globalen Süden wie auch für die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, die mehr Diplomatie fordern.
In den westlichen Hauptstädten werden die Staats- und Regierungschefs Stoßgebete sprechen, der russische Präsident Wladimir Putin möge dem G20-Gipfel fernbleiben, um so vielleicht die Illusion aufrechterhalten zu können, Russland sei international isoliert. Indonesien hat sich dem Druck auf Ausladung nicht gebeugt. Ob Putin am 15./16. November nach Nusa Dua im Süden Balis reisen wird, ist freilich noch offen. Nach Einschätzung des Gastgebers Indonesien wird eine Entscheidung möglicherweise erst in letzter Minute klar sein.
Vollkommen realitätsfremd wird die ukrainische Führung nicht müde, den Ausschluss Russlands aus der G20 zu fordern, wenigstens die Ausladung vom Gipfel auf Bali. Der Gruppe gehören wichtige Länder an wie China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika, die dem westlichen Narrativ im Ukraine-Krieg nicht folgen und auch die einseitigen Wirtschaftssanktionen der USA und der EU gegen Russland nicht unterstützen. Mittlerweile hat Selenski angekündigt, er werde nicht zum Gipfeltreffen in Indonesien kommen, sollte der russische Präsident teilnehmen. Das mag ihm bei seinen Unterstützern im Westen Applaus einbringen, ist aber allein insofern dreist, als die mit Milliarden Euro Steuergeldern aus Deutschland und der EU genährte Ukraine – im Unterschied zu Russland – der G20 selbst gar nicht angehört und der ukrainische Präsident von seinem indonesischen Amtskollegen nur als Gast eingeladen wurde. Präsident Widodo war dafür eigens nach Kiew gereist, aber eben auch nach Moskau, um für seine Friedensinitiative zu werben.
Im „Handelsblatt“ hat Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in Washington und früherer Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, eine europäische diplomatische Initiative angemahnt: „Angesichts der Blockade des Weltsicherheitsrats durch die Vetomacht Russland bietet Bali (…) eine vermutlich auf längere Zeit einzigartige geostrategische Bühne, um Wege vom Krieg in Richtung Frieden in der Ukraine aufzuzeigen.“ Die in Bali vertretenen EU-Mitglieder einschließlich der EU-Spitze könnten dort versuchen, mit einem diplomatischen „Doppelwumms“ zu zwei Themen ihre „Weltpolitikfähigkeit“ unter Beweis zu stellen: „Erstens, zu Optionen der Beendigung der russischen Invasion in der Ukraine. Und zweitens, zu den beunruhigenden amerikanisch-chinesischen Spannungen, insbesondere mit Blick auf die Taiwan-Frage.“ Im Zusammenwirken zwischen den in der Ukraine-Krise bereits erprobten Akteuren UN-Generalsekretär und Türkei könnte, so Ischinger, „gemeinsam mit China und der EU, von Washington diskret gestützt, eine Art vertrauliche G20-Kontaktgruppe eingerichtet werden, die – sowohl mit Moskau wie auch mit Kiew – schrittweise Modalitäten einer Kriegsbeendigung explorieren und erarbeiten könnte“. Es ist viel Konjunktiv, aber unterm Strich doch mehr Argumentation für eine Verhandlungslösung, wie sie vom indonesischen G20-Gastgeber angestrebt und in Kiew gefürchtet wird, als die bisherige Maxime „Russland ruinieren“, die von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock ausgegeben wurde.