Über den EU-Bericht zur Rechtsstaatlichkeit

Doppelmoral

Die EU-Staaten haben auf deutsches Drängen beschlossen, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit künftig mit der Kürzung von EU-Mitteln zu bestrafen. Gewertet wird die Rechtsstaatlichkeit in einem jährlichen Bericht der EU-Kommission. Am 30. September war es wieder soweit. Die schlechten Noten bekamen erwartungsgemäß Polen und Ungarn.

Das Urteil wurde selbst bei einst linksorientierten Medien bejubelt. O-Ton „Neues Deutschland“: „Es ist eine Schande, dass Ungarn EU-Gelder kassiert, obwohl Regierungschef Viktor Orbán ein autoritäres Regime errichtet. In dem Land werden unter anderem Roma und Transgender-Personen diskriminiert. Während der Coronakrise verabschiedete der Staat Notstandsgesetze, um die verbliebenen kritischen Journalisten zu drangsalieren.“ Damit liegt das Blatt, auf der Linie von „FAZ“ und „Die Welt“.

Letztere schrieb: „Europa versteht sich zu Recht als Wirtschafts- und als Wertegemeinschaft. … und verpflichtet sich zu Moral.“ Wer gegen diese Moral verstößt, muss es zu spüren bekommen, so wie man einem bösen Kind das Taschengeld kürzt. Katharina Barley, ehemalige Bundesfamilienministerin und heutige Europa-Abgeordnete der SPD, will Polen und Ungarn im Interview mit „Deutschlandfunk“ wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gar „aushungern“. Das ist Großmachtvokabular.

Ja, die Hetze gegen Schwule, Lesben und Transgender ist widerlich, die rassistischen Maßnahmen gegen Roma und Sinti inakzeptabel, die Schurigelei der Presse übel und das Verhalten gegenüber Flüchtlingen muss man nicht teilen. Nur, was die EU unter Führung Deutschlands in der letzten Woche zum Thema Flüchtlinge als Kompromiss vorlegte, ist, was die Moral anbelangt, um kein Haar besser. Die „guten“ Deutschen profitieren massiv von billigen Arbeitskräften aus Osteuropa und nehmen eine Handvoll Flüchtlinge auf. Polen und Ungarn sollen die Drecksarbeit erledigen und abgelehnte Migranten abschieben. Mit Werten, womöglich mit christlicher Nächstenliebe, hat das nichts zu tun.

Um welche Moral geht es also? Wessen Werte und wessen Rechte sind der Maßstab? Die Regierung Deutschlands und die von ihr installierte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen präsentieren einen Sündenbock für die sinkende Euphorie für eine EU, die immer offener und brutaler die Interessen des Kapitals vertritt. Die ersten, für die sich nach der heißen Phase der Pandemie wieder die Grenzen öffneten, waren Pflegekräfte aus Polen. Das Kapital brauchte sie, um die eklatanten Mängel im privatisierten Gesundheitssystem notdürftig zu kaschieren.

Mit der Geldkeule will man Ungarn und Polen zwingen, sich den wirtschaftlich starken Wortführern der EU zu fügen. Die Gescholtenen fragen, wo denn Konzeption, Methodik und die genauen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit festgeschrieben sind – und wer sicherstellt, dass alle mit demselben Maß gemessen werden?

Man muss die repressive Politik der Regierungen von Ungarn und Polen nicht gutheißen. Im Gegenteil, man kann und muss sie kritisieren. Nur das, was derzeit in Deutschland durch die bürgerlichen Medien wabert, trieft vor Arroganz und Selbstgefälligkeit. Nicht minder doppelzüngig ist das Lamento über fehlende Pressevielfalt in Ungarn. Die Kritik kommt aus einem Land, im dem die Presse in der Hand von wenigen Monopolen konzentriert ist, und in dem die Chefin von Springer gerade ein Milliardenpaket an Aktien weitgehend steuerfrei an ihren Chefredakteur verschenkt hat, damit er seinen Job macht: Ihre Klasse propagandistisch an der Macht halten.

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"Doppelmoral", UZ vom 9. Oktober 2020



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