Die Dorfbevölkerung hat sich herausgeputzt, eine Blaskapelle spielt, der Lokalreporter hält sein Mikrofon einer alten Dame hin, die sichtlich uninteressiert ist, seine Fragen zu beantworten, obwohl sie doch der Anlass für die ganze Feierlichkeit ist. „Dazu gibt es doch mein Buch“, meint sie zur Frage nach ihrer wirklich ungewöhnlichen Biografie. Die Dame heißt Éva Pusztai-Fahidi, ist 90 Jahre alt und Ehrengast einer Zeremonie, bei der vor dem Haus ihrer Kindheit drei „Stolpersteine“ verlegt werden zur Erinnerung an ihre Eltern und ihre Schwester Gilike, die im KZ Auschwitz umgebracht wurden.
Das Buch heißt „Anima rerum – Die Seele der Dinge“, erschien 2005 und erzählt von ihren grausamen KZ-Erlebnissen, aber auch von dem Glück, als einzige ihrer Familie Auschwitz überlebt zu haben. Die Regisseurin und Choreographin Réka Szabó war von der Lektüre so fasziniert, dass sie mit der Autorin Kontakt aufnahm und sie für die Idee gewann, gemeinsam mit der 60 Jahre jüngeren Modern-Dance-Ballerina Emese Cuhorka daraus eine biografische Tanzperformance zu entwickeln. Ihr Film „Das Glück zu leben“ zeichnet nun die Arbeit an diesem Projekt bis hin zu den ersten Bühnenaufführungen nach, unterschnitten mit Gesprächen, Probenausschnitten und Interviews, die oft durch eine große Intimität überraschen.
Mit für einen Dokumentarfilm recht ungewöhnlicher Bildgestaltung, kunstvollen Doppelbelichtungen und eigenwilliger Farbdramaturgie gibt Kamerafrau Claudia Kovacs dem Film eine fast künstliche Anmutung, so als lasse sich die Härte des Geschilderten nur in träumerischer Form aushalten. „Ich will kein Drama, ich habe mein Drama hinter mir“, sagt Éva fast ungehalten, als jemand sie unmittelbar vor der Premiere ihrer Performance in ihrer Garderobe interviewen will. Und doch war es ein Drama, ein sehr reales sogar, dem sie durch ihre fast nüchterne Sprache Gewicht und Schärfe nehmen will. Nur wer wie sie durch Totstellen auf einem Berg Erschossener überlebte, kann noch die Perspektive der Folterer annehmen: Blutende und stinkende Leichen reizen nicht einmal die Täter zu weiterem Missbrauch.
Tänzerin war Éva Fahidi nie, aber die Idee ihrer Regisseurin weckt in ihr alle Lebensgeister, und wenn die junge Ballerina Emese mit ihr erste Lockerungsübungen macht oder sie schwungvoll durch den Raum zieht, fühlt sie sich „trotz meiner 90 noch wie 16“, und bald schon trägt Emese ein buntes Kleid als Geschenk aus Évas Glanztagen – der Funke ist übergesprungen. Wie schon einmal, ein einziges Mal zuvor. Éva ist damals 28 und längst verheiratet, als sie ihrer „ersten großen Liebe“ begegnet. In Évas knappen Worten erfahren wir darüber nur soviel: „Nebenbei war da der arme Pusztai als mein Ehemann.“ Bürgerliche Moralbedenken wischt sie beiseite: „Nach Birkenau steht einem das zu. Mir stand alles zu!“
Wie sollte man einer selbstbewussten, auch im hohen Alter würdigen Dame, die noch dazu uns auf ihre Art bestens unterhalten hat, irgendetwas abschlagen? Doch eine Frage bleibt bei alledem, und es ist die Kernfrage vieler Dokumentaristen: Wie weit darf, wie weit muss er in das Geschehen vor der Kamera eingreifen? Szabós Idee zum „Pas de deux“ als filmischer Version von Éva Fahidis Buch hat ja eigentlich erst jenen Prozess ausgelöst, den sie danach aufzeichnet und künstlerisch bearbeitet. Anfangs hat man den Eindruck, Szabó habe ihre Hauptfigur nur gegen ihren Willen auf die Bühne und auf die Kinoleinwand gezerrt und tue ihr mit den Übungen sogar körperliche Gewalt an – was erst allmählich verschwindet. Auch der Verlauf der gemeinsamen Filmarbeit scheint immer mal ins Stocken zu geraten, und erst eine kurze „Regieanweisung“ bringt ihn wieder in die Bahn. Dem Dokumentarfilm-Puristen in mir schafft das zwar Bedenken, aber ohne solche „Inszenierung“ wäre ich um ein großes Kinoerlebnis ärmer.
Das Glück zu leben
Ungarn 2019
Regie: Réka Szabó
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