Diskussionstribüne (Teil 3)

Halbkolonie oder ­imperialistische Großmacht?

Richard Corell zu Lenins Imperialismus-Kriterien

Bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Entwicklung der Russischen Föderation ist als erstes festzuhalten, dass die Situation eine vollkommen neue in der Geschichte ist: die Transformation eines sozialistischen Landes, das über Jahrzehnte Bestand hatte und sich erfolgreich gegen innere und äußere Feinde verteidigte. Wohin entwickelt sich dieses Land nach über 70 Jahren Sozialismus? Die Imperialisten würden aus Russland gerne eine Halbkolonie machen, die neue russische Bourgeoisie strebt in Richtung einer imperialistischen Großmacht, die Arbeiterklasse und die breiten Volksmassen brauchen ein sozialistisches Land.

Das ist zu bedenken bei der Bestimmung des Klassencharakters Russlands anhand Lenins Definition des Imperialismus mit seinen fünf Kriterien aus dem Jahr 1916. Lenin schreibt: „Deshalb muss man (…) eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied zum Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Welt unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“

Auf Russland bezogen ergibt sich folgendes Bild:

  1. Konzentration/Monopole: Die heutigen russischen Großunternehmen sind aus den volkseigenen Kombinaten der sozialistischen Sowjetunion hervorgegangen; sie haben also eine andere Entstehungsgeschichte als die Monopole, die aus der Entwicklung des Kapitalismus hervorgegangen sind. Die heutigen Eigentümer waren üblicherweise Kader der KPdSU oder des Komsomol. Es fand unter ihnen eine Differenzierung statt in die rücksichtslosen Oligarchenimitate des Westens und solche Bourgeois gewordenen Genossen, deren Interessen durch die internationalen Monopole, durch den Imperialismus gehemmt oder unterdrückt werden und die sich deshalb auf ihre soziale und nationale Verantwortung besannen. Die Kommunistische Internationale hat dafür die Unterscheidung in nationale und Kompradorenbourgeoisie geprägt. Russland leidet einerseits an der Ausbreitung des Kapitalismus. Andererseits an zu wenig Kapitalismus, an dessen Entwicklung der Imperialismus kein Interesse hat, dessen Entwicklung teils durch Sanktionen, aber auch durch die Krisen (2007/2008 und 2018/2020) im imperialistischen Lager behindert wurden. Teils wird die Entwicklung durch die russische Kompradorenbourgeoisie selbst gehemmt. Die hat objektiv die Funktion, Konkurrenz gegen ihre Partner aus den imperialistischen Ländern nicht aufkommen lassen.
  2. Bankkapital/Finanzkapital/Finanzoligarchie: Private Banken gibt es in Russland erst seit 1990. Gegenüber 1988 mit fünf aktiven Banken waren es 1992 über 1.300. 1999 waren 1.476 Banken zugelassen. „Des Weiteren führte die Reform zur Gründung von branchenbezogenen Geschäftsbanken und Holdinggesellschaften. Einzelne Wirtschaftszweige spalteten die Finanzabteilungen der jeweiligen Branchenministerien ab und gründeten somit eigene Geschäftsbanken, die wiederum im Zuge der Privatisierung erhebliche Industriebeteiligungen erhielten. Diese Banken agierten als Hausbanken beziehungsweise Vertreter ihrer jeweiligen Konzerne. Da die Großunternehmen ihre Geldgeschäfte vorrangig über ihre eigenen Geschäftsbanken oder Holdinggesellschaften abwickelten, waren die Expansionsmöglichkeiten anderer Banken und der Ausbau flächendeckender Repräsentanzen nur beschränkt möglich.“ (Deutsches Institut für Bankwirtschaft) Eine Entwicklung also, die weit weg ist von der Universalbank, wie sie Lenin beschreibt. Außerdem ist die alles überragende Bank, die Sberbank, in staatlicher Hand, ebenso die nächstgrößte, die Vneshtorgbank, sowie über 20 weitere Kreditinstitute. Bekannt geworden ist auch die Gazprom-Bank, die aber über Gazprom selbst wieder unter dominantem staatlichem Einfluss steht. Die größte Privatbank, die Alfa-Bank, hat etwa 10 Prozent des Geschäftsumfangs der Sberbank und ist mit grade einmal 80 Filialen überwiegend nur im Großraum Moskau präsent. „Die Konzentration der Einlagen bei staatlichen Banken lässt darauf schließen, dass Anleger den Privatbanken bislang kein ausreichendes Vertrauen entgegenbringen und somit der ausgeprägte staatliche Einfluss wesentlich zur Systemstabilisierung beiträgt.“ (a. a. O.) – In Russland ist eben der Kapitalismus noch nicht wirklich verankert, noch nicht zu etwas fast Natürlichem geworden – wie wir hier aus berufenem Mund erfahren durften. Es ist der Staat – auch wenn er heute in der Hand der nationalen Bourgeoisie ist –, der dem Imperialismus ein Dorn im Auge ist, dessen Entmachtung in anderen Halbkolonien mit Erfolg betrieben wurde und zur verschärften Ausplünderung der Entwicklungsländer beigetragen hat.
  3. Kapitalexport: Bestand an Direkt­investitionen als klassischer Indikator der bürgerlichen Statistik für Kapitalexport: in Russland 464 Milliarden, aus Russland im Ausland 387 Milliarden US-Dollar (2019). Zum Vergleich die BRD (2019): Bestand in der BRD 556 Milliarden; aus der BRD im Ausland: 1.372 Milliarden Euro. Deutsche Direktinvestitionen in Russland: 25,5 Milliarden Euro; Investitionen Russlands in der BRD: 2,2 Milliarden Euro. Wirkliche imperialistische Länder haben typischerweise einen Überschuss beim Kapitalexport; Russland dagegen hat mehr Kapital aus dem Ausland importiert als dahin exportiert. Darüber hinaus geht ein hoher Anteil des Kapitalexports aus Russland in solche Länder wie Zypern oder Malta. Das ist ein Hinweis, dass russische Kapitalisten überwiegend nicht in produktiven Anlagen investieren, sondern in Finanzanlagen. Und dass sie dabei möglichst anonym bleiben wollen. Das deutet darauf hin, dass es sich eher um Kapitalflucht handelt als um die Eroberung von Kommandohöhen in fremden Ländern.
  4. Aufteilung unter internationale Kapitalistenverbände: Im größten und wichtigsten Sektor der russischen Wirtschaft, dem Öl-, Gas-, und Energiesektor, sind die russischen Konzerne lediglich Außenseiter des Ölkartells (siehe auch UZ vom 22. April 22). Dies ist auch für weitere Rohstoffkartelle zu vermuten wie bei Nickel, aber schwer nachzuweisen, da Kartelle geheim gehalten werden und die Kartellbehörden nur in Ausnahmefällen überhaupt aktiv werden.
  5. Territoriale Aufteilung unter die imperialistischen Großmächte beendet: Die territoriale Neuaufteilung der Welt begann 1989 mit der Einverleibung der DDR durch den deutschen Imperialismus, es folgten die Zerschlagung der auf den Knochen der Opfer des 2. Weltkriegs entstandenen Staaten CSSR, dann CSR und Jugoslawien. Die anderen sozialistischen Länder Osteuropas wurden unter Kuratel der EU gestellt und damit unter deren Hegemon Deutschland in Kooperation und Rivalität mit Frankreich. Sie fristen ein Dasein als Halbkolonien. Das ist der Boden, auf dem der Chauvinismus und Faschismus wächst und auf dem eine bereits vor Jahrhunderten vergangene Größe aktuelle territoriale Ansprüche begründen soll im Stil von „Großungarn“, „Großpolen“ und so weiter.

Die imperialistischen Staaten hatten ähnliche Pläne für Russland. Nach der Zerschlagung der Sowjetunion – gegen den erklärten Volkswillen – ging es in der „Transformationsperiode“ unter Boris Jelzin darum, Russland mit dem Potenzial zur Großmacht den Aufstieg in den Klub der imperialistischen Großmächte zu verwehren und die russischen Rohstoffe zu plündern. Diese Pläne konnte Russland – auch dank Putin – verhindern und widersteht ihnen seitdem.

(Der Diskussionsbeitrag beruht auf einem Artikel des Autors in der aktuellen Ausgabe der „Kommunistischen Arbeiterzeitung“ (KAZ), Nummer 380.)

Der abstrakte Ruf nach Frieden reicht nicht

Hans Bauer zum Krieg in der Ukraine und dem Ringen um die richtige Position

Gegensätzliche Positionen zum Krieg in der Ukraine zerreißen zurzeit auch die kommunistische Bewegung. Sie behindern einheitliches Handeln. Ja, sie nutzen der imperialistischen Kriegspolitik, dienen der weiteren Verlängerung des Krieges.

Weitgehend Übereinstimmung gibt es bei der Beurteilung von NATO und EU und ihren Hauptstaaten. Gleichzeitig wird aber von Teilen der linken Bewegung die Militäroperation Russlands verurteilt – Hauptargument ist deren Bewertung als „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“. Manche meinen, wir dürften für keine der beiden Seiten Partei ergreifen. Ein sozialistischer Staat sei ohnehin nicht involviert. Und schließlich, hat der Ausgang dieses Krieges für unseren Kampf überhaupt Bedeutung?

Selbstverständlich streiten Kommunistinnen und Kommunisten für eine friedliche Welt – nach innen und nach außen. Das gehört zum Wesenskern der Revolution. Der abstrakte Ruf nach Frieden reicht aber nicht. Der Kampf um ihn ist immer konkret-historisch. Auch imperialistische Kriege werden als Friedensmissionen verschleiert, so als „humanitäre Interventionen“.

Gesellschaftliche Erscheinungen untersuchen und beurteilen, Position beziehen und nach Erkenntnissen handeln – das ist die Pflicht der Kommunisten. Das gilt auch für Kriege zwischen kapitalistischen und/oder imperialistischen Staaten, nicht erst, wenn sozialistische involviert sind. Für die Analyse haben wir unsere marxistische Dialektik, die Tatsachen, Wechselwirkungen und komplexe Zusammenhänge erforscht. Auch im Ukraine-Krieg müssen wir nach dem Charakter dieses Krieges fragen, also nach seinen Ursachen und Anlässen, seinen Zielen, seinen Nutznießern. Und nach den Konsequenzen für uns.

Die „Militäroperation“ vom 24. Februar 2022 ist Glied einer Kette in einem langen gegen Russland geführten Krieg. Anlass der Operation war ein bevorstehender Angriff. Die Gründe sind bekannt, inzwischen bekräftigt durch weitere Beweise. Seit Jahren steuerte die NATO systematisch auf eine solche militärische Konfrontation zu. Das waren nach Auflösung der Sowjetunion die NATO-Osterweiterung, provokative Großübungen an Russlands Grenzen, der Kiewer Maidan-Putsch 2014, der anschließende Bürgerkrieg mit 14.000 Toten sowie die Militarisierung und Faschisierung der Ukraine – all dies begleitet von beispiellosem Russenhass und völkerrechtswidrigen Sanktionen. Mit Informations- und Wirtschaftskriegen sollte Russland international diskreditiert, isoliert, seine Wirtschaft „ruiniert“ werden. „Friedliche Streitbeilegung“, auch ein Prinzip der UNO (Kapitel VI der Charta), von Russland immer wieder gefordert, wurde permanent missachtet.
Die strategischen Ziele des Krieges gegen Russland haben NATO-Politiker klar formuliert: Die USA wollen Russlands Einfluss auf die globale Politik ausschalten sowie seine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Westeuropa, vor allem mit Deutschland, verhindern. In ihrem Hegemoniestreben beabsichtigen sie sodann, sich voll auf die Auseinandersetzung mit China zu konzentrieren. Deutschland strebt nach einer Führungsrolle in der EU und an der Seite der USA nach größerer Weltgeltung. Für dieses Ziel sind ihm gegen Russland alle Mittel recht.

Wie positionieren wir uns? Russland verteidigt legitime Sicherheitsinteressen. Deren „Erheblichkeitsschwelle“ wird wesentlich von historischen Erfahrungen mit bestimmt. Das Herausgreifen und die Betonung eines einzelnen Moments für die Bewertung dieses Krieges wird einer marxistischen Analyse nicht gerecht.

Wie eine Welt unter der Hegemonie der USA aussähe, wissen wir. Die „westliche Wertegemeinschaft“ hat sich in Bezug auf Frieden und Menschenrechte schon lange disqualifiziert. Nicht nur für uns bieten sich günstigere Wirkungsbedingungen in einer multipolaren Welt.
Die Hoffnung der Menschheit könnte ein sozialistisches China sein. Allein: Das darf uns in diesem Krieg nicht zum „neutralen“ Beobachter machen.

Schließlich dürfen wir als deutsche Kommunistinnen und Kommunisten niemals unsere besondere historische Verantwortung gegenüber Russland vergessen.

Es gibt also gute Gründe, für eine Beendigung des Krieges mit gleichberechtigter Sicherheit für Russland einzutreten und dies zu verbinden mit dem Kampf gegen die NATO und den Hauptfeind im eigenen Land.

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"Diskussionstribüne (Teil 3)", UZ vom 19. August 2022



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