Jürgen Lloyd zu drei Typen von Kriegen

Diskussionstribüne (Teil 2)

In dieser Ausgabe setzen wir die Diskussionstribüne der UZ zur Debatte des Charakters des Krieges fort. Die Leitfragen dafür sind:

  • Was sind Erscheinungsformen dieses Krieges und was ist sein Wesen?
  • Was müssen wir angesichts der Atomkriegsgefahr in unserer Analyse beachten?
  • Wie muss der Ukraine-Krieg in die internationalen Klassenkämpfe eingeordnet werden?
  • Welche Rolle spielt der Ukraine-Krieg für die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse? Welche Strategie und welche Ziele verfolgt der deutsche Imperialismus?

Wir bitten Autoren darum, uns vor der Einreichung von Beiträgen deren konkrete Fragestellung zu schicken, damit wir die Debatte besser planen können: redaktion@unsere-zeit.de

Der Beschluss des 24. Parteitags, der die Grundlage der Diskussionstribüne bildet, ist in der UZ vom 3. Juni abgedruckt. Dort haben wir auch Auszüge aus dem Referat des DKP-Vorsitzenden Patrik Köbele dokumentiert. Das vollständige Referat kann online abgerufen werden: kurzelinks.de/24-Parteitag

Frieden nur durch die Klasse

Jürgen Lloyd zu drei Typen von Kriegen

In der UZ vom 22. Juli weist Björn Blach auf Lenins Schrift „Sozialismus und Krieg“ hin. In dieser forderte Lenin 1915 nachdrücklich „einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren“. Es ist für unsere Einschätzung heute hilfreich, dass er dabei zwischen der Analyse der historischen Besonderheit des Krieges und der Darstellung der Gründe, von denen diese Besonderheiten hervorgebracht werden, unterscheidet. Letzteres besteht in der Feststellung, dass die kriegführenden Mächte allesamt in die Epoche des Imperialismus eingetreten sind: „Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, dass der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ‚Groß‘mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“

So treffend diese Einschätzung bis heute ist, geht Lenin für die geforderte Analyse der Besonderheiten aber noch einen anderen Weg. Er argumentiert nicht mit dem Charakter der kriegführenden Staaten, sondern mit den jeweiligen Ergebnissen, die sich aus dem Sieg eines jeden der beteiligten Mächte ergeben würde. So sei Deutschland zwar „vom Standpunkt der bürgerlichen Gerechtigkeit“ gegenüber England und Frankreich im Recht, da es bei der Teilung der Kolonien „übervorteilt“ sei und seine Weltkriegsgegner unvergleichlich mehr Nationen unterdrückten. Dennoch schlägt Lenin sich nicht auf die Seite Deutschlands und führt hierzu die vielsagende Begründung an: „Aber Deutschland selbst kämpft nicht für die Befreiung, sondern für die Unterdrückung der Nationen.“

Den gleichen Weg der historisch-konkreten Analyse von Kriegen zeigt Reinhard Opitz in einem bemerkenswerten Manuskript, das im Band 1 der dreibändigen Edition nachgelassener Schriften veröffentlicht wurde. Dort unterscheidet Opitz drei Typen von Kriegen im Zeitalter des Imperialismus: I. Kriege zwischen imperialistischen Mächten zur Abgrenzung ihrer jeweiligen Einflusszonen; II. Kriege mit imperialistischen Mächten auf der einen Seite und unterdrückten Völkern oder Nationen, die sich noch in der fortschrittlichen Phase des Kapitalismus befinden, in dem er noch in der Lage ist, die Produktivkraftentwicklung voranzutreiben, auf der anderen Seite; III. Kriege, die von imperialistischen Mächten gegen Nationen geführt werden, die sich bereits vom Imperialismus befreit haben oder gerade darum kämpfen, den imperialistisch gewordenen Kapitalismus abzuschütteln. Als Beispiele für diese drei Typen führt Opitz den Ersten Weltkrieg (Typ I), den Krieg zur Niederschlagung des Boxer-Aufstands (Typ II) und die Interventionskriege gegen die noch junge Sowjetrepublik (Typ III) an. So einfach die Zuordnung zu einem dieser Typen imperialistischer Kriege bei diesen Beispielen noch ist, so kompliziert wird es zunehmend im Lauf der Zeit, da die meisten Kriege heute eine Mischform von zwei oder gleich allen drei dieser Typen bilden. Dies erklärt Opitz am Zweiten Weltkrieg. Hier wird deutlich, warum der Blick auf die jeweiligen Konsequenzen hilfreich ist, für unser Urteil über den Charakter des Kriegs.

Der Zweite Weltkrieg in Europa war – soweit er zwischen Deutschland und den Westmächten geführt wurde – ein zwischenimperialistischer Krieg. Die vom faschistischen Deutschland überfallenen kapitalistischen Staaten führten ihn keineswegs als antifaschistischen Krieg. Ihr Sieg hätte zur Aneignung des Territoriums und der Unterwerfung der Ressourcen des Unterlegenen geführt. So mussten – dem imperialistischen Charakter der Westmächte gemäß – deren Pläne zwingend aussehen und taten es auch. Der Krieg des faschistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion sollte aus Sicht des deutschen Imperialismus den von ihm beherrschten Raum um riesige Gebiete im Osten ausweiten, war zugleich aber ein Krieg vom Typ III, bei dem die Vernichtung des Bolschewismus auf die Fahne gehoben wurde. Von der Sowjetunion wurde er somit als sozialistischer Verteidigungskrieg geführt und siegreich beendet. Daher hatte ihr Sieg auch entscheidend andere Konsequenzen: Im Osten Deutschlands führte er zur Befreiung vom Imperialismus überhaupt. Im Westen führte die Kriegsbeteiligung einer sozialistischen Macht noch dazu, dass nicht die Zerstückelungs- und Beherrschungspläne der imperialistischen Gegner zur Durchsetzung kamen, sondern rasch die neue gemeinsame Frontstellung gegen die Infragestellung des imperialistischen Systems durch den Sozialismus die weitere Politik bestimmte.

Fazit: Um den Charakter eines Kriegs einschätzen zu können, ist der Blick auf die Konsequenzen des Siegs jeder der involvierten Mächte sinnvoll. Ob die Unterwerfung eines imperialistischen Konkurrenten die Folge ist, der Krieg also ein zwischenimperialistischer Krieg ist, für den Lenins Diktum gilt, es sei „nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (…) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern“, ob der Krieg zur Durchsetzung einer vom Imperialismus unabhängigen kapitalistischen Entwicklung in dessen noch fortschrittlichem Stadium geführt wird oder gar der Verteidigungskrieg einer sozialistischen Macht ist – der Krieg also demnach einen antiimperialistischen Charakter trägt –, darüber entscheiden die Kräfte, die als Sieger über die Konsequenzen für den unterlegenen Gegner entscheiden können.

Dass in der Russischen Föderation sozialistische Kräfte die Macht hätten, einem militärischen Erfolg in der Ukraine einen antiimperialistischen Charakter aufzuzwingen und die Ukraine auf einen neutralen, antiimperialistischen Weg mit freundschaftlichen Beziehungen zu ihren Nachbarn zu führen – das wäre sicherlich zu wünschen und von den Friedensfreunden hier nach Kräften zu unterstützen. Doch ich vermag nicht zu erkennen, dass eine solche Entwicklung irgendwo absehbar sei. Ich bleibe bei der Schlussfolgerung aus meinem Referat auf der Imperialismus-Konferenz von Marx-Engels-Stiftung und DKP Frankfurt: „Es existiert im Imperialismus keine vernünftige Option, die Herstellung von Frieden, die Verhinderung von Krieg, an irgendeine Kraft zu delegieren, welche nicht Ausdruck der selbst-ständigen und selbstbewussten Macht der Arbeiterklasse ist!“

Ist Russland ein imperialistisches Land?

Ein Beitrag zur Klärung • Von Christel Buchinger

Russland sei eine imperialistische Macht, hört man sogar von Kommunisten. Selten macht man sich viel Arbeit mit Beweisen, es reicht der Hinweis auf Wladimir Iljitsch Lenins Imperialismustheorie. Diese widerspiegelt aber die Verhältnisse zur Zeit des Ersten Weltkriegs und muss auf die heutigen globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse angewandt werden.

Gibt es heute unabhängige imperialistische Staaten, die nicht zum US-geführten Westen mit seinem Anspruch auf Weltherrschaft gehören? Ich meine nein. Der Konflikt des Westens mit Russland und im Übrigen ja auch mit China beruht auf der Weigerung dieser beiden Länder, sich dem imperialistischen Westen unterzuordnen. Domenico Losurdo folgend, sieht Andreas Wehr diesen Konflikt als Teil des Nord-Süd-Konflikts „zwischen westlichem Vormachtstreben und aufstrebenden Schwellenländern“.

Die „staatliche“ Interessenvertretung der aggressivsten Teile des spekulativen Großkapitals sind heute die USA, deren Politik auch deswegen global ausgerichtet ist, weil sie nicht nur das Interesse des US-Kapitals vertreten, sondern eben das des globalen Kapitals aller Länder. Auch das russische Finanz- und Spekulationskapital sieht in den USA seine Interessenvertretung.

Ausdruck und Folge davon ist, dass die weiteren imperialistischen Länder den USA vollkommen und unterwürfig folgen. Es gibt nur noch einzelne und zeitweise Versuche, eigene imperialistische Interessen zu verfolgen oder mit den USA um die Führung zu konkurrieren. So versuchte die EU unter anderem mit der Einführung des Euro und der Lissabon-Strategie, führende Wirtschaftsmacht auf dem Planeten zu werden. Die USA haben darauf reagiert und – mittels ihrer Dienste und Stiftungen – einen Teil der Politelite Europas ausgetauscht.

Losurdo spricht davon, dass Russland mit Wladimir Putin die neoliberale Kontrolle, die Boris Jelzin akzeptiert hatte, abgeschüttelt hat. Warum unterwirft es sich nicht wie Europa? Es könnte doch wie die Europäer kalkulieren, dass sich mit den USA die imperialistischen Interessen besser umsetzen lassen als gegen sie? Warum macht es eine eigenständige Politik? Könnte es sein, dass Russland noch immer ein Gesellschaftssystem im Übergang ist, der Kapitalismus in Russland nicht vollständig gesiegt hat? Putin hat einen großen staatlichen Sektor, inklusive der Rüstungsindustrie, wiederhergestellt. Es gibt noch etliche Gesetze aus der Zeit der Sowjetunion, zum Beispiel im Arbeits- und Eigentumsrecht – Privatbesitz an Grund und Boden ist stark eingeschränkt. Es gibt eine starke Kommunistische Partei, die mitgliederstärkste Europas, die beim Ukraine-Krieg nicht von einem zwischenimperialistischen Konflikt spricht.

Wenn Russland eine Gesellschaft im Übergang ist und noch keine gefestigte kapitalistische Gesellschaft, dann ist auch noch nicht ausgemacht, wo der Übergang letztlich hingeht – und in diesem Lichte muss man das Bündnis mit China sehen. Russland belebt seine Beziehungen zu Kuba wieder und hilft ihm, hilft Venezuela, hilft Nicaragua – wendet sich also mehr und mehr dem antiimperialistischen Lager zu. Die Dritte Welt schaut mit großer Hoffnung auf den Block um Russland und China und ihr Projekt der multipolaren Weltordnung.

Zu guter Letzt: Präsident Putin hat im Dialog mit dem Vorsitzenden der KPRF, Gennadi Sjuganow, Anfang Juli geäußert: „Was die sozialistische Idee betrifft, so gibt es in ihr nichts Schlechtes. (…) In einigen Ländern wird sie umgesetzt, sie hängt zusammen und ist verflochten mit marktförmigen Formen der Regulierung und funktioniert echt effektiv. (…) Was die Beteiligung des Staates betrifft, (…) so ist auch hier die Frage, wo, in welchem Umfang der Staat beteiligt sein muss, in welcher Form, wie der Staat seine Tätigkeit im Bereich der Ökonomie regeln muss. Nun, das werden wir alle zweifellos im Laufe von Diskussionen und Auseinandersetzungen lösen und ich gehe davon aus, dass wir bei einem Verständnis dafür, was die Hauptsache ist – die Interessen der Menschen, des Landes – diese Lösungen finden werden.“

Spricht so ein Führer eines imperialistischen Landes?

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"Diskussionstribüne (Teil 2)", UZ vom 5. August 2022



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