Diskussionstribüne (Teil 1)

In dieser Ausgabe öffnen wir die Diskussionstribüne der UZ, die mit einer Dokumentation der Redebeiträge auf dem 24. Parteitag begonnen hat, für weitere Beiträge, um die Debatte weiterzuführen. In den Mittelpunkt wollen wir die Untersuchung des Charakters des Kriegs in der Ukraine stellen. Leitfragen dafür sind:

  • Was sind Erscheinungsformen dieses Krieges und was ist sein Wesen?
  • Was müssen wir angesichts der Atomkriegsgefahr in unserer Analyse beachten?
  • Wie muss der Ukraine-Krieg in die internationalen Klassenkämpfe eingeordnet werden?
  • Welche Rolle spielt der Ukraine-Krieg für die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse?Welche Strategie und welche Ziele verfolgt der deutsche Imperialismus?

Wir bitten Autoren darum, uns vor der Einreichung von Beiträgen deren konkrete Fragestellung zu schicken, damit wir die Debatte besser planen können. Die maximale Zeichenzahl der Beiträge beträgt 4.000 Zeichen inklusive Leerzeichen:
redaktion@unsere-zeit.de

Der Beschluss des 24. Parteitags, der die Grundlage der Diskussionstribüne bildet, ist in der UZ vom 3. Juni abgedruckt. Dort haben wir auch Auszüge aus dem Referat des DKP-Vorsitzenden Patrik Köbele dokumentiert. Das vollständige Referat kann online abgerufen werden: kurzelinks.de/24-Parteitag

Eine juristische Betrachtung

Ralf Hohmann zum Völkerrecht

Seit Monaten klingt das hysterische Gerede vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ in allen Ohren. Diejenigen, die sich zu Richtern über Recht und Unrecht aufschwingen, haben sich bei all ihren völkerrechtswidrigen Präventionskriegen und selbsternannten „humanitären Interventionen“ von Jugoslawien bis Afghanistan nicht einen feuchten Kehricht um Völkerrecht, UN-Charta und Gewaltverbot geschert. Und wenn die USA, selten genug, ins Netz des Völkerrechts gingen, wie 1986, als der Internationale Gerichtshof die Angriffe auf das Territorium Nicaraguas verurteilte, blieben die USA die ausgeurteilte milliardenhohe Strafentschädigung an Nicaragua schuldig. Sie ignorieren das Urteil bis heute. Warum? Weil die USA es können.

Die UN-Charta ist reines Vertragsrecht, das Staaten zwar untereinander bindet, aber im Unterschied zu innerstaatlichem Recht verfügen die Vereinten Nationen über keine Exekutive, um Beschlüsse vollstrecken zu können. Staaten schließen Vereinbarungen, brechen sie bei Bedarf und nach Interessenlage, Konsequenzen tragen sie nicht. „Welches politische Kind weiß nicht heute, dass diese Verträge (das heißt ‚internationale Staatsverträge‘) nur dazu gemacht werden, um bei entsprechender Verschiebung der Kräfte gebrochen zu werden?“, schrieb Rosa Luxemburg am 19. August 1911 in der „Leipziger Volkszeitung“. Alles Recht, auch die UN-Charta, ist ein Spiegelbild von Kräfteverhältnissen. Die Existenz des sozialistischen Lagers sorgte bis 1989 dafür, dass der US-Imperialismus auf der Ebene der internationalen Staatengemeinschaft noch Grenzen spüren musste.

Heute versucht China außenpolitisch in Zusammenschlüssen wie BRICS und mit Projekten wie der Belt-and-Road-Initiative die Prinzipien der Souveränität, territorialen Integrität und des gewaltfreien Miteinanders als Basis zwischenstaatlicher Beziehungen durchzusetzen. Die Antwort auf die Frage, ob Russland derzeit einen unerlaubten Angriffs- oder einen gerechtfertigten Verteidigungskrieg führt, orientiert sich juristisch am Wortlaut der UN-Charta. Das strikte Gewaltverbot für zwischenstaatliche Verhältnisse (Artikel 2, Ziffer 4, UN-Charta) kennt mit Artikel 51 der Charta nur eine Ausnahme: Bei „individueller oder kollektiver Selbstverteidigung“ ist Gewalt erlaubt. Voraussetzung ist ein gegenwärtiger Angriff, also ein koordinierter militärischer Schlag unter Verletzung fremden Territoriums. Seitens der Ukraine ist eine Angriffshandlung auf russisches Territorium in diesem Sinn nicht feststellbar. Einkreisung, Bedrohung, Isolation, Provokation liegen juristisch unter der Erheblichkeitsschwelle. Ein präventiver militärischer Überfall auf die Ukraine mit dem Ziel der Entmilitarisierung, Entnazifizierung oder als Haltegebot für den US-Imperialismus wird nicht dadurch völkerrechtlich zulässig, dass sich Russland auf gleichartige frühere Völkerrechtsbrüche der USA beruft.

Bleibt die Nothilfe für die souveränen Volksrepubliken Lugansk und Donezk, die kurz vor Beginn der Intervention Russland um Beistand gegen die sprunghaft ansteigenden Gewaltakte ukrainischer Streitkräfte baten. Handelt es sich bei diesen Gewaltakten auf das Gebiet der Volksrepubliken nicht bloß um einzelne unkoordinierte Scharmützel, kann von einem Angriff der Ukraine gesprochen werden, woraus resultiert, dass Russland sich auf Artikel 51 UN-Charta berufen kann. Letztlich aber nur, wenn die Intervention nach der Sicherung der territorialen Integrität der Republiken Lugansk und Donezk zu ihrem Ende kommt.

Den Krieg erklären? Ja.
Den Krieg rechtfertigen? Nein!

Debattenbeitrag von Rainer Wolf

Glaubwürdigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften im Ringen um die Köpfe der Menschen. Verschiedene in der UZ abgedruckte Redebeiträge und auch der Beschluss des 24. Parteitags stellen (in einem Satz) die Glaubwürdigkeit der Partei infrage.

Zu Recht kritisieren wir Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werktätigen in Deutschland. Zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werktätigen in Russland schweigen wir. Wie wollen wir glaubwürdig Kolleginnen und Kollegen für den Kampf gegen das Kapital in Deutschland gewinnen, wenn wir zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen in Russland schweigen?

Ein Blick auf die Internetseite LabourNet.de lohnt sich für jede Genossin, jeden Genossen: Verhaftungen von Gewerkschaftsvorsitzenden, Verbot von Gewerkschaften, elende Arbeitsbedingungen mit 12-Stunden-Schichten, zahlreiche Todesfälle wegen nicht vorhandener beziehungsweise nicht eingehaltener Arbeitsschutzmaßnahmen in den Fabriken. Manchesterkapitalismus nannte man einmal solche Verhältnisse.

Am 31. Dezember 1993 berichtete das „Neue Deutschland“: „Wladimir Putin, 2. Bürgermeister von St. Petersburg (…), hat vor deutschen Wirtschaftsvertretern deutlich gemacht, dass eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild die für Russland wünschenswerte Lösung der gegenwärtigen politischen Probleme wäre. (…) Putin antwortete auf Fragen von Vertretern von BASF, Dresdner Bank, Alcatel und anderen (…). Dabei unterschied Putin zwischen ‚notwendiger‘ und ‚krimineller‘ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, ‚notwendig‘, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze.“

Ähnliches kann über Pjotr Awen, einen Banker des russischen Finanzkonzerns Alfa Group, in der „jungen Welt“ vom 18. Juni gelesen werden.

Der Antragsentwurf enthielt den Satz: „Auch wir haben keine Illusion über den russischen Staat. Er ist ein kapitalistischer Staat, der aber von der NATO bedroht wird.“ Damit konnte ich gut leben. Der 24. Parteitag beschloss folgende Änderung: „Auch Russland ist ein Staat, in dem die Bourgeoisie die Macht hat. Sie hat aber mit der Arbeiterklasse das Interesse gemein, dass Russland der Bedrohung durch die NATO widersteht.“ Die Bourgeoisie als Beschützerin der Arbeiterklasse? Identische Interessen?

Es wird immer wieder – und in meinen Augen zu Recht – darauf verwiesen, wie wenig wir über Russland wissen. Aber dann einen solch apodiktischen Satz zu formulieren, ist schwer verdaulich. Hätte man sich nicht etwas mehr mit der russischen Realität, den Lebens- und Arbeitsbedingungen der russischen Kolleginnen und Kollegen beschäftigten müssen?

Es mag sein, dass aus Gründen der Staatsräson Treffen Putins mit Orbán und Erdogan notwendig sind. Aber: Madame Le Pen traf Putin, Herr Chrupalla traf Lawrow. Wie das antifaschistische Magazin „Der rechte Rand“ schon im August 2018 berichtete, „empfängt die russische Regierung extrem rechte europäische Parteien, schließt Verträge mit ihnen (FPÖ) oder vergibt Darlehen in Millionenhöhe (FN)“.

Diese Figuren wollen die Nazis aus der Ukraine vertreiben? Sind denn die eingesetzten Kadyrow-Truppen Antifaschisten? Was würde ein Sieg dieser Schlächter für die ukrainischen Werktätigen bedeuten, für die Genossinnen und Genossen in der Ukraine?

Oder gibt es vielleicht auch wirtschaftliche Interessen? Dazu Alexander Nepogodin: „Wenn Moskau diese Regionen langfristig integriert, werden sie zu wichtigen Säulen der russischen Wirtschaft, die Einkommen und Entwicklungsmöglichkeiten generieren.“ (rt.de, 7. Juni 2022)

Dem Parteitag folgend haben also die russischen Werktätigen ein Interesse an diesem Krieg, schießen vorausschauend auf die ukrainischen Werktätigen. Russische Jugend gegen ukrainische Jugend! Aus dem „Kommunistischen Manifest“ ist Folgendes überliefert: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“

Projekt „Ukraine“

Manfred Pohlmann zum Diskussionsbeitrag von Thomas Hagenhofer

Ich finde es sehr bedauerlich, wenn nur Allgemeinplätze angedeutet werden. Wer würde ernsthaft bestreiten, dass der kriegerische Akt der Russischen Föderation gegen das Völkerrecht verstößt, dass jeder Krieg eine Niederlage ist und schnellstens mit Vernunft beendet werden muss? Völkerrecht seit 1945 konsequent anzuwenden, würde bedeuten, fast sämtliches politisches Personal und jeden zweiten Oligarchen der westlichen Machteliten hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Ich denke nicht, dass in Dokumenten des Parteivorstands oder in vielen Artikeln der UZ eine „illusionäre Vorstellung einer antiimperialistischen Opposition“ Russlands vertreten wird. Und wenn ich die Veröffentlichungen der portugiesischen, kubanischen und chinesischen Genossinnen und Genossen verfolge, so ist es keineswegs so, dass wir ein „Alleinstellungsmerkmal“ mit unseren Einschätzungen hätten. Absolut ärgerlich und nicht akzeptabel finde ich, dass mit dem Begriff „Imperialismus“ mittlerweile ein Verblendungszusammenhang konstruiert wird. Wir sollen, so Genosse Hagenhofer, „maximale Distanz zu beiden kriegstreibenden Akteuren“ einnehmen? Auf diese Weise nur auf der Erscheinungsebene zu argumentieren, geht am Wesentlichen vorbei – oft auch nur sehr knapp. Hier fehlt mir mit Hegel die „Anstrengung des Begriffs“!

Seit 2008 wird sehr trickreich und mit vielen US-Dollar am Projekt „Ukraine“ gearbeitet. Dort tobt nicht der Kampf mehrerer Oligarchensysteme (USA, EU, Russland, Ukraine), sondern es findet eine Schlacht um die letzten Grenzgebiete der Kapitalakkumulation dieses Planeten statt, vom „Rohstoffgiganten“ Russland bis hin zur „Endstation China“. Wie war das noch gleich mit der grundlegenden Rolle der Arbeit und der Ökonomie in der Geschichte der Menschheit und dem dialektischen Zusammenhang? Wenn nicht alles täuscht, gelingt der VR China der Spagat zwischen Produktivkraftentwicklung und Ökologie. Mit ziemlicher Sicherheit scheitern die westlichen Staaten an genau dieser Stelle, mögen sie es auch anders wollen.

Krieg unter Imperialisten?

Wolfram Elsner zum Diskussionsbeitrag von Jann Meier

Der Ukraine-Krieg ein innerimperialistischer Krieg um die Neuaufteilung Osteuropas? Das ist leider keine konkrete historische, sondern eine ziemlich abstrakte Betrachtung. Russland wäre unter anderen Umständen vielleicht ein imperialistisches Land geworden, dessen Monopolkapital in aller Welt um die Ausbeutung der Ressourcen und Erschließung der Absatzmärkte konkurriert hätte – ist es aber nicht.

2022 ist eben nicht mehr 1915, und der Imperialismus ist nicht mehr allein auf der Welt. Neue Kräfteverhältnisse, insbesondere die Existenz Chinas, erlauben neue strategische Orientierungen, auch für Russland. Lenin zum Ersten Weltkrieg zu zitieren hilft da nicht. Russland unter Putin ist im Kern zwar kapitalistisch, hat aber ein starkes ökonomisches, politisches und ideologisches sozialistisches Erbe. Es hat sich für einen nichtimperialistischen Weg in der Welt entschieden – aus eigener existenzieller Erfahrung mit dem Imperialismus. Es steht an der Seite Kubas, Venezuelas, Nicaraguas und Syriens. Zusammen mit China, Indien und anderen tritt es im Rahmen der Shanghai Cooperation und von BRICS für eine antihegemoniale, multipolare Weltordnung ein, gegen Erstschlagsangriffe und für die Geltung des Völkerrechts.

Es geht in der Ukraine sehr wohl um den Schutz der Menschen im Donbass und anderen Teilen des Landes, die von einem faschistischen Völkermord und rassistisch-ethnischer Unterdrückung bedroht sind – und es geht sehr wohl um eine Entnazifizierung der Ukraine. Die fortschrittlichen Kräfte in Russland sind auch keineswegs geschwächt, sondern für den Kampf um den weiteren nationalen Wiederaufbau gestärkt. Dass die Arbeiterklasse Russlands noch einen weiten Weg zu gehen hat – geschenkt. Vermutlich aber nicht so weit wie der Weg der deutschen.

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"Diskussionstribüne (Teil 1)", UZ vom 15. Juli 2022



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