Die US-Regierung präsentierte sich wieder einmal als die Lordsiegelbewahrer von Freedom and Democracy, von Reisefreiheit, Freiheit der Rede und Weltoffenheit. Im Auftrag des US-Außenamts zerrten drei Bewaffnete in Bürgerkriegsmontur den früheren US-Marine-Corps-Offizier Scott Ritter aus einem Flugzeug der Turkish Airlines und nahmen ihm seinen Pass ab. Ritter hatte beabsichtigt, vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen über Istanbul zum Internationalen Ökonomischen Forum in St. Peterburg (SPIEF) zu fliegen. Diese Episode zeigt, welchen Stellenwert der US-Sicherheitsstaat dem St. Petersburger Treffen beimisst, wenn er sogar bereit ist, einen US-Bürger vor den Augen der Welt seiner verfassungsmäßig garantierten Rechte zu berauben und ihn mit Waffengewalt an der Teilnahme zu hindern. Ein profilierter US-Antikriegs-Aktivist auf einer internationalen Großveranstaltung in Russland ist offensichtlich zu viel des Guten.
In der Tat ist SPIEF24 ein Treffen der Superlative. Seit seiner Gründung 1997 ununterbrochen abgehalten – 2021 aufgrund von Covid virtuell –, zog das 27. Forum mehr als 21.000 Besucher aus 139 Ländern in die Stadt an der Newa. Wiederum eine deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Hier können Business- und Polittreffen aller Art und mit Teilnehmern aus praktisch allen Nationen arrangiert werden. 982 Geschäftsabschlüsse im Wert von 71,8 Milliarden US-Dollar wurden getätigt. Soweit sie öffentlich gemacht wurden. Soviel zur „Isolation“ Russlands. Unter dem Hauptthema des Treffens, „Die Formierung neuer Wachstumsregionen als Eckpfeiler für eine neue Multipolare Welt“, diskutierte Präsident Wladimir Putin auf dem Podium mit den Präsidenten Boliviens und Zimbabwes, Luis Alberto Acre Catacora und Emmerson Dambudzo Mnangagwa, als Vertreter des Globalen Südens. Auch das ein deutliches Statement. Keine prestigeträchtigen Gesichter aus Europa oder Nordamerika, sondern ausgewiesene, aber relativ unbekannte Kämpfer gegen neokoloniale Abhängigkeit und für Multipolarität.
Putin hielt im Kontext dieser Zentralveranstaltung eine Grundsatzrede, in der er die wichtigsten gegenwärtigen ökonomischen, politischen und militärischen Trends und die Aufgaben und Ziele der russischen Führung vor einem großen Publikum detailliert darstellte und bewertete. Russlands Ökonomie habe sich, nach Kaufkraft (PPP) gemessen, auf den vierten Platz im internationalen Ranking vorgeschoben. Der Vorsprung sei klein, aber damit würden drei der vier ersten Plätze von Staaten der BRICS-Gemeinschaft, China, Indien und Russland, eingenommen.
Die Inhalte der Rede zogen sich von Außenhandel, über die Verringerung der Importabhängigkeit, die Selbstversorgung und Sanktionssicherheit, die Chancen und Probleme mit privatem Investmentkapital, Entwicklung der Transitkorridore, sowohl in Nord-Süd-Richtung, wie der Internationale Nord-Süd Transport Korridor (INSTC), als auch in der Ost-West-Richtung, entlang der Transsibirischen Eisenbahn und der Baikal-Amur-Magistrale, die in diesen Tagen ihren 50. Geburtstag feiert. Nicht nur diese Strecken, sondern die gigantischen sibirischen Regionen zusammengefasst als Eastern Operating Domain sollen schwerpunktmäßig entwickelt und ausgebaut werden. Gleiches gilt für den ambitionierten Ausbau der Nord-Ost-Passage durch das russische Eismeer.
Putins Rede war gespickt mit zahllosen Projekten, Vorhaben und den dazu gehörenden Statistiken, welche die russische Führung mittelfristig umzusetzen gedenkt. Der Zuhörer wurde unwillkürlich an die alten Zeiten der Fünfjahrespläne erinnert. Aber es gehe auch um strukturelle Veränderungen. Putin nannte zehn dieser „qualitativen und strukturellen Änderungen“, die, mit den notwendigen personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln ausgestattet, vom Rat für Strategische Entwicklung und Nationale Projekte des russischen Präsidenten umgesetzt werden sollen. Das alles, was hier aus Platzgründen nur angedeutet werden kann, ist nur möglich in einer sozialökonomischen Grundstruktur, die ökonomische und gesellschaftliche Planung in diesen Dimensionen überhaupt möglich macht. Etwas, was in den neoliberal zugrunde gerichteten Ökonomien des Werte-Westen unter dem Diktat des Shareholder-Value zu einem Anathema geworden ist. Unausgesprochen nähert sich Russland den chinesischen Strukturen einer zwar gemischten, aber vom Staat kontrollierten und gelenkten und darum erfolgreichen Wirtschaft mehr und mehr an.
SPIEF ist ein Weltereignis. Das immer stärker integrierte Eurasien trifft den antihegemonialen Globalen Süden. Russland hat in seinen ökonomisch-strategischen Planungen den Ukraine-Krieg längst hinter sich gelassen. Während der Werte-Westen sich mit seinem Mantra „Putin darf nicht gewinnen“ politisch, ökonomisch und gesellschaftlich ruiniert, wird sich ein wiedererwachtes Russland seiner Kraft und Stärke bewusst. Nicht nur im ökonomisch-militärischen Sinne, sondern als emanzipativ-antihegemonialer Aufbruch, in vielem an die internationalen Errungenschaften des Antikolonialismus der Sowjetunion anknüpfend. Angesichts der permanenten US/NATO-Kriege, der Massaker und Völkermorde ist der in St. Petersburg sichtbar gewordene Aufschwung der Globalen Mehrheit ein wichtiges Zeichen der Ermutigung und Hoffnung.