In „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ ist der kreative Arbeiter verblendet und verzweifelt

Diktatur der Unzulänglichkeiten

Von Ken Merten

Roman Ehrlich

Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens

S. Fischer 2017,

640 Seiten, 24 Euro

Ein „Marsch auf Berlin“ erwartet uns erst im zweiten Teil von Roman Ehrlichs zweitem Roman „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“. Vorher aber erfahren wir durch Ich-Erzähler Moritz, wie der vom ehemaligen Kommilitonen und Nachwuchs-Filmemacher Christoph dazu eingeladen wird, an dessen Horrorfilm mit Arbeitstitel „Das schreckliche Grauen“ mitzuwirken. Moritz fährt von da an regelmäßig von München nach Ulm, um sich dort in der Hinterzimmerkneipe „Café Porsche“ an sogenannten Angst-Sitzungen zu beteiligen. TeilnehmerInnen treten dort auf die Bühne und erzählen von ihren tiefsten Ängsten – nicht etwa wie auf der Therapeutencouch, sondern anhand von Geschichten, die als Inspiration für den Film dienen sollen.

Moritz vernachlässigt seinen Job in einer Schwabinger Marketingagentur bis zur Entlassung aus jener postfordistischen Männerbude, wo die Kumpel-Chefs zu Bayern-Heimspielen einladen und wöchentlich Chicken-Wings ausgeben. Der Verlust der Lohnarbeit gesellt sich zum Schmerz der Trennung von seiner Freundin. Moritz heftet sich monomanisch an das Filmprojekt Christophs, der in den Ulmer Abenden die Feder führt. Christophs Meinung über die vorgetragenen Geschichten ist jene, die zählt. Er bestimmt die Abläufe. Seine Ansprachen geben der Filmcrew den ideellen Mantel: „Seit ich denken kann, erzählte uns Christoph einmal als Teil seiner einleitenden Worte, bin ich mir sicher, dass die Welt, in der ich lebe, zusammenbrechen wird.“

Christoph ist der charismatische, pathetische Führer, der die Gemeinschaft nach seinem Gusto über ihre Grenzen hinaus ins sadomasochistische Chaos stürzt. Er ästhetisiert die Politik, lässt Moritz und Co. glauben, die Welt sei jener Horror, als den er sie sieht.

Währenddessen geht Erzähler Moritz ganz und gar im Filmprojekt auf. Er verzweifelt, als die Treffen ihr Ende finden, und er verwahrlost während der folgenden „fürchterlichen Tage“ der Dreharbeiten auf einem Fußmarsch durch Deutschland, Ziel: Berlin. Immer voller Unbehagen, ist Moritz die tragische Figur des Mitläufers, der der „Diktatur der Unzulänglichkeiten“ auch nicht im mittelfristigen Heilsverbund einer Sekte entkommt. Das ständige Anheben der Eskalationsstufen – Selbstverletzung, Brandstiftung, Raub usw. – machen Moritz‘ Unglück ebenso dingfest wie seine Abhängigkeit von Christoph und dessen Kult. Moritz ist doppelt tragisch, weil er an der falschen Stelle das Falsche sucht: an einem B-Movie ohne konkretes Konzept mitzuwirken, um Anerkennung und Selbstgewissheit dadurch zu erlangen, einen möglichst brutal ausfallenden Filmtod zu sterben. Moritz leidet unter einem mehrschichtigen Verblendungszusammenhang, mit dem er genauso gut in jede zeitgenössische reaktionäre Bewegung von IS bis Identitären passen würde.

Roman Ehrlich, 1983 im bayrischen Aichach geboren, schafft damit die Karikatur des kreativen Arbeiters, der nach Kulturwissenschaftler Diederich Diederichsen mit seiner „Identifizierten Produktion“ zu kämpfen hat, dem fetischisierten Gegenüber der kapitalistischen Entfremdung. Moritz, und ebenso Christoph, können nicht unterscheiden zwischen den Filmszenen als Produkt und ihren Händen, die die Kamera halten oder mit der sie sich selbst verletzen. Versagen wird dadurch fatal, weil das eigene Leben an den Karren gebunden ist, der die Klippe hinabfährt.

Moritz geht in seiner Verzweiflung die Grenze zum Wahnsinn entlang. Dabei hält er sich an der Welt nur durch seine Querverweise auf die Angst-Geschichten der anderen fest. Geschichten über spontane Selbstentzündung, zerstörerische Sorge um den eigenen Nachwuchs und insbesondere postapokalyptische Dystopien sowie essenzielle Ängste um die eigene Existenz.

Sprachlich bleibt Moritz bei der indirekten Rede. Er erzählt nach, mit Tiefenschärfe und eigener Meinung, doch ohne den gesamten Komplex, der zu nichts als zum Scheitern verurteilt ist, zu hinterfragen. Zum Eigentlichen, zum Kern gelangt Moritz nicht. Nur an wenigen Stelle blitzt so etwas auf, wie ein notwendiges Hinterfragen des eigenen Lebenswandels: „Damals erst ist mir so richtig aufgegangen, auf wie viele verschiedene Arten ein zuhörender Mensch missbraucht werden kann von einem redenden anderen“, konstatiert er in jener Phase der Verzweiflung Mitte des Romans, in der ungewiss ist, ob Christoph ihn nun für die Dreharbeit mitnimmt oder nicht.

„Es geht für mich darum, dass Personen auftreten“, so Roman Ehrlich vergangenen Juni auf dem Prosanova-Festival für junge Literatur in Hildesheim über sein Schreiben, „die sich der Gemachtheit der Welt bewusst werden“. 2013 debütierte er mit seinem lethargischen Roman „Das kalte Jahr“. Was er mit seinem Zweitling liefert, ist nicht nur ein Sammelsurium großartiger Einzelstorys, sondern auch eine Erzählstimme und -figur, die jenen kleinbürgerlichen Zeitgeist aufgreift, der die Realität frei vom vernünftigen Diktat der Fakten als bloße Narrationen auffasst.

In Roman Ehrlichs Roman treten mit Erzähler Moritz und Regisseur Christoph zwei kreative Arbeiter auf, die sich durch das Machtgefüge fundamental unterscheiden. Beide über­identifizieren sich mit dem Filmprojekt, doch nur Christoph entscheidet, wohin der Hase läuft, während sich Moritz fatal darin auflöst. Dilettanten sind sie beide, nur an unterschiedlichen Stellen der Hierarchie, dem spürbaren Fakt im Webmuster der Erzählungen. Soziale Stellungen sind keine Story, aber sie sind menschengemacht.

Roman Ehrlich zeigt mit seinem 640-Seiten-Roman, dass er kein Dilettant ist und sich auch nicht von den eigenen Geschichten an die Wand drücken lässt. „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ ist eine große Jetztzeit-Analyse jener treibenden Existenzangst, die nicht schockstarr macht, sondern die Hand nach scheinbar starken Führern und altgedienten Machtstrukturen ausstrecken lässt.

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"Diktatur der Unzulänglichkeiten", UZ vom 8. September 2017



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