Im Dezember erschien im Kölner PapyRossa Verlag das Buch „Chinas langer Marsch in die Moderne“ von Beat Schneider. In diesem beantwortet der Autor 20 Fragen, die im Zusammenhang mit der VR China immer wieder gestellt werden. Er gibt dabei einen umfangreichen Überblick über die Geschichte, die jüngste Entwicklung und die sozialen Strukturen des bevölkerungsreichsten Landes der Welt. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags drucken wir das Kapitel zur digitalen Kontrolle ab.
Wenn im Westen von chinesischer „IT-Diktatur“ oder „digitaler Neuerfindung der Diktatur“, von „Überwachungsstaat“, „Techno-Autoritarismus“ oder von „digitalem Leninismus“ gesprochen wird, ist vor allem das sogenannte „Sozialkredit-System“ im Visier. Auch bei der westlichen Linken stößt es als „dystopisches Unterdrückungsinstrument“ auf Unverständnis. Die durch Big Data und Künstliche Intelligenz gesteuerte elektronische Kontrolle des Alltagslebens ist den westlichen Menschen verständlicherweise ein Albtraum. Relativierende Stimmen geben zu bedenken, dass es über China hinaus einen „globalen Trend“ zu datenhungrigen Kredit- und Bewertungssystemen gibt. Einige China-Experten weisen darauf hin, dass sich in einer voreilig geäußerten Kritik „westliche Ängste vor der eigenen Überwachung“ widerspiegeln. Eine sachliche Auseinandersetzung tut also not. Im Folgenden geht es vor allem um das chinesische „ Sozialkredit-System“, während die anderen heißen Punkte kurz erwähnt werden.
Great Firewall
Der ehemalige US-Präsident Clinton äußerte sich im Jahr 2000 folgendermaßen: Das Internet könne China stark verändern. „China versucht, das Internet kleinzukriegen, keine Frage. Na, viel Glück! (…) Da könnte man genauso gut versuchen, Wackelpudding an die Wand zu nageln.“ Clinton täuschte sich. China hat dank des genügend großen Datenvolumens ein Paralleluniversum zu den Big Five aus dem Silicon Valley (Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft und Facebook) aufbauen können. Anstelle von Amazon gibt es Alibaba, anstelle von Facebook Tencent, anstelle von Google Baidu, anstelle von Twitter Weibo und anstelle von Instagram Xiaohong Shu. Im Namen ihrer nationalen Internet- und Cybersouveränität hat die VR China, in Anlehnung an die Große Mauer, die sogenannte „Great Firewall“ (deutsch: große Brandmauer) errichtet. Die US-IT-Giganten sind seit zwei Jahrzehnten in China gesperrt. Nur Google hat in der Zwischenzeit die vom chinesischen Staat formulierten Bedingungen für einen Auftritt in China akzeptiert. Diese bestanden in der Übernahme der staatlichen Zensurvorschriften.
Zensur
Verboten sind in den chinesischen Medien nämlich die Veröffentlichung von Pornografie, Gewaltverherrlichung, Kriegsspiele, Rassismus, Nationalismus, Kriegshetze, diskriminierende und verachtende Äußerungen gegen Frauen und Ethnien und andere Menschen. Weil Facebook & Co. diese aus geschäftlichen Gründen nicht verbieten wollten, wurden sie zusammen mit WhatsApp, YouTube und Instagram von der „Great Firewall“ geblockt.
Auch im Westen wird Facebook inzwischen vorgeworfen, es verursache „hate speech“ (deutsch: Hassrede), gesellschaftliche Spaltung, Gewalt, psychische Schäden bei Kindern und Jugendlichen, unterstütze pubertierende Mädchen in ihrer Magersucht, habe den faschistoiden Mob zum „Kapitol-Sturm“| angeheizt und unternehme nichts gegen all dies, um seine Profite nicht zu gefährden. Deshalb sieht sich die EU gegenwärtig veranlasst, in ein neues Datenschutzgesetz entsprechende Zensurvorschriften einzubauen.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der „Great Firewall“ sind die Chinesinnen und Chinesen im Durchschnitt gut informiert, auch über den Westen, meistens besser jedenfalls als die Menschen im Westen über China. Auch wenn der Begriff Zensur negativ konnotiert ist, muss man die Dinge beim Namen nennen: Im Westen gibt es Zensur in all ihren Varianten, staatliche und private, von den IT-Giganten betriebene. Es wird aber gern mit zweierlei Maß gemessen: Dieselben, die sich in Europa gegen die Allmacht von Facebook, Google & Co. wenden und gegen die Auslieferung der digitalen Kommunikation an die US-amerikanischen Digitalgiganten und Geheimdienste protestieren, sprechen von Zensur, wenn sich China gegen die westlichen IT-Giganten wehrt. Die enge Kooperation der US-amerikanischen IT-Giganten mit dem Staat und seinen Geheimdiensten, über die spätestens seit den Veröffentlichungen von Edward Snowden (2013) kein Zweifel mehr besteht, brachte den Westen in große Verlegenheit. Peter Achten meinte sogar, dass im Westen, wo jedes Smartphone eine elektronische Fußfessel geworden sei, das größte Überwachungs- und Manipulationssystem der Weltgeschichte entstanden sei. Keyu Jin ist überzeugt, dass in China die Zensur nur in ein paar wenigen sensiblen Bereichen greife. Dem Autor fehlen die einschlägige Erfahrung und die Quellen, um dies beurteilen zu können.
Big Data und Künstliche Intelligenz im öffentlichen Raum
In China säumt heute ein engmaschiges Netz von Millionen von Kameras zur Gesichtserkennung – die Schätzungen schwanken zwischen 200 und 600 Millionen – den Alltagsweg der Chinesinnen und Chinesen. Geplant ist die Errichtung einer digitalen Datenbank für alle 1,4 Milliarden Einwohner mit deren Fotos. In Verbindung mit modernster Gesichtserkennungssoftware und den Millionen von Kameras im öffentlichen Raum soll es möglich werden, innerhalb von drei Sekunden mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von an die 90 Prozent den Aufenthaltsort jedes Staatsbürgers und jeder Staatsbürgerin festzustellen beziehungsweise ein Bewegungsprofil von ihr oder ihm zu erstellen. Die neuesten chinesischen Technologien werden gegenwärtig punktuell ausprobiert. Sie bilden die Grundlagen des „Sozialkredit-Systems“ (siehe unten). Die größte Gesichtsdatenbank der Welt befindet sich im Übrigen nicht in China, sondern in New York: Die Firma Clearview AI verfügt über drei Milliarden Bilder, die sie von Facebook, YouTube & Co. herunterlädt und verschiedenen Nutzern zur Verfügung stellt. Sie wurden bisher von staatlichen Institutionen, unter anderem von der Polizei in 24 Ländern außerhalb der USA, probeweise eingesetzt.
Regulierung der IT-Giganten
Lange herrschte von staatlicher chinesischer Seite gegenüber den IT-Giganten eine Politik des Laissez-faire. Wachstum und Innovation hatten freien Lauf. Die vom Staat gewollte Freiheit hat den IT-Konzernen aber erlaubt, mit der Zeit ihre neu aufgebaute Monopolmacht gegenüber den Konsumenten (vor allem gegenüber Kleinkreditnehmern) auszunutzen. Um glaubwürdig zu bleiben, musste die Regierung nun Korrekturen einleiten. Seit 2020 ist die Phase der Regulierung beziehungsweise der Reduzierung der Marktmacht der IT-Konzerne angesagt. Auf die spezifischen Gründe und einzelnen Maßnahmen soll hier nicht eingegangen werden. Im Westen redet man vom „Big Tech Crackdown“ (deutsch: Razzia gegen die Tech-Giganten). Was immer dabei herauskommt, der Staat scheint die IT-Giganten mehr unter Kontrolle zu haben, als das im Westen der Fall ist, wo die IT-Konzerne außerhalb von Staat und Gesellschaft stehen und dem Staat zuliefern. Die Big Five, die mit ihren Algorithmen einen großen Teil des Sozial- und Arbeitslebens der westlichen Menschen prägen, unterliegen fast ausschließlich den Marktgesetzen und den Bedingungen, die ihr Management festlegt. Man kann ihnen kaum dieselben Beschränkungen oder Vorschriften auferlegen, die normalerweise mit der Regulierung öffentlicher Dienstleistungen einhergehen. „Die US-Digitalgiganten“, so Sahra Wagenknecht, „erkaufen sich das Wohlwollen der Politik inklusive der Freiheit von jeder gesetzlichen Regulierung dadurch, dass sie den US-Staat und die Geheimdienste an ihren Überwachungserkenntnissen teilhaben lassen.“
Datenschutzgesetz
Ein Novum für die VR China ist, dass mit einem Datenschutzgesetz versucht wird, den Datenhandel in den Griff zu bekommen. Ende 2021 wurde das neue „Algorithmus-Gesetz“, wie es auch heißt, unter dem Namen „Personal Data Protection Law“ in Kraft gesetzt. Mit ihm betritt die VR China Neuland. Vorbild war die „General Data Protection Regulation“, die in der EU immer noch im Gesetzgebungsverfahren steckt. In Europa wurde vonseiten einer breiten Öffentlichkeit verlangt, dass die Marktmacht der IT-Giganten eingehegt und gegen spalterische und hetzerische Inhalte vorgegangen wird. Das ist nichts anderes als das, was in China effektiv realisiert wird. Wenn es dort geschieht, wird es allerdings als Zensur gebrandmarkt.
Das chinesische Gesetz ist einschneidender als der Entwurf der EU, dem schon zu Beginn der Novellierung die schärfsten Zähne gezogen worden sind. Priorität hat die Sicherheit der Konsumenten. Beim chinesischen Medienkonsum soll vor Datenmissbrauch geschützt werden, vor allem vor demjenigen durch die IT-Wirtschaft, die wie die westliche mit Daten viel Geld verdient. Im Mittelpunkt des Gesetzes steht die Zustimmung der Dateninhaber zur Datennutzung.
Das chinesische Sozialkredit-System (SCS)
Die folgenden Aussagen zum chinesischen Sozialkredit-System (chinesisch: Shehui Xinyong/englisch: Social Credit System [SCS] oder Social Score System) stützen sich neben den üblichen Quellen vor allem auf zwei Aufsätze: auf den der kapitalnahen deutschen Wirtschaftsplattform „1&1 Ionos“, die unter anderem an China interessierte deutsche Unternehmen über China informiert und deshalb einigermaßen sachlich analysiert, und auf jenen des deutschen marxistischen Autors Marc Püschel, der vor allem den gesamtgesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Aspekt des SCS referiert.
Definition des SCS
Mit der Abkürzung SCS ist das chinesische datengestützte digitale Steuerungs-, Erfassungs- und Ratingsystem gemeint, welches Daten über das Verhalten von Einzelpersonen, Staatsangestellten, Unternehmen, Organisationen und Verbänden sammelt und bewertet. Das SCS geht zurück auf den „Planungsentwurf für den Aufbau eines Sozial-Kreditsystems“, den der chinesische Staatsrat im Juni 2014 verabschiedet hat. Es ist das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit der KPCh und befindet sich immer noch in der Experimentierphase, welche in rund 70 Testprojekten in verschiedenen Städten stattfindet. Es ist derzeit noch völlig unklar, ob das SCS landesweit konsequent eingeführt wird, für alle Bewohner gleichermaßen gelten und jemals als allumfassendes Kontrollsystem funktionieren wird.
Zwei Tatsachen sind wichtig: Erstens betrifft das SCS Privatpersonen, Unternehmen und den Staat. Das heißt, dass sich auch Regierung und Verwaltung dem SCS stellen müssen. Zweitens gibt es in China staatliche und privat geführte Sozialkredit-Systeme. So experimentiert die Alibaba-Tochter Ant Financial mit einem SCS, an dem sich die Chinesinnen und Chinesen auf freiwilliger Basis beteiligen können und das auf dem Punktesystem des sogenannten „Sesame Credit System“ beruht. Das im Westen bekannteste staatliche Testprojekt befindet sich in der Küstenstadt Rongcheng.
Ziele des SCS
Das SCS hat einen gesamtgesellschaftlich-wirtschaftspolitischen und einen moralisch-gesellschaftlichen Ansatz und soll zur Verwirklichung mehrerer Ziele beitragen.
Im Westen wird beim SCS (bewusst?) nur auf das Ratingsystem zur Erfassung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhaltens von Privatpersonen fokussiert. Es muss aber betont werden, dass das geplante SCS einen umfassenden gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Ansatz verfolgt. Die Fragen, die sich die chinesische Führung stellt, sind folgende:
- Wie kann ein komplexes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus marxistischer Sicht klug gesteuert werden?
- Wie kann mit anderen Worten die dysfunktionale „unsichtbare Hand des Marktes“ durch eine sichtbare staatliche Hand ersetzt werden?
- Wie kann eine leistungsfähige und zugleich anpassungsfähige Wirtschaft unter dem politischen Primat effizient, basis- und zeitnah gesteuert werden?
- Wie kann mit der enormen Daten-, Analyse- und Steuerungsinfrastruktur und den außergewöhnlichen sozial- und technikwissenschaftlichen Analysekapazitäten, über die die VR China verfügt, ein Fünftel der Menschheit in einer hochkomplexen multikulturellen Gesellschaft zusammengehalten werden?
Das sind alles spannende Fragen, deren praktische Beantwortung eine riesige Herausforderung darstellt. Im genannten Planungsentwurf für den Aufbau eines SCS steht: „Ein Sozialkredit-System ist ein wichtiger Bestandteil des sozialistischen marktwirtschaftlichen Systems und der sozialen Steuerung. (…) Es wird durch die rechtmäßige Verwendung von Kreditinformationen und durch ein Kreditdienstleistungssystem unterstützt, seine Anforderungen sind die Etablierung einer Kultur der Aufrichtigkeit und das Weitertragen von Ehrlichkeit und traditionellen Tugenden. Es nutzt Ermutigungen zur Erhaltung des Vertrauens und Beschränkungen gegen Vertrauensbrüche als Anreizmechanismen. Sein Ziel ist die Förderung einer Mentalität der Ehrlichkeit und des Kreditniveaus der gesamten Gesellschaft.“
Auf ökonomischer Ebene setzt die chinesische Führung auf die Steuerungs- und Lenkungseffekte des Ratingsystems, das heißt auf das diffizile Zusammenspiel von Anreiz-, Straf- und Kontrollsystemen. Die deutsche digitale IT-Wirtschaftsplattform „1&1 Ionos“ vermerkt, dass Unternehmen von einer optimierten Korruptionsbekämpfung, von einer effizienten Marktregulierung sowie von Geschäftspartnern, die nachgewiesenermaßen eine weiße Weste haben und auf dubiose Geschäftspraktiken verzichten, profitieren könnten.
Der moralisch-erzieherische Ansatz
Partei und Regierung der VR China möchten auf sozialer und moralischer Ebene das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen, Behörden und Organisationen beeinflussen. Für die Privatpersonen beziehungsweise die normalen Bürgerinnen und Bürger dient das SCS vor allem der Etablierung eines formalisierten Kreditdienstleistungssystems. Der Staat möchte das Schulden- und Finanzmanagement der Chinesen verbessern und die Kreditwürdigkeit von Millionen Bürgern feststellen, die kein Bankkonto besitzen. Dazu muss man wissen, dass bisher hunderte Millionen Menschen in China nicht in ein funktionierendes Kredit- und Finanzwesen eingebunden sind. Das SCS soll diese Lücke ausfüllen.
Die Bürgerinnen und Bürger sollen ihr Verhalten am Gemeinwohl orientieren und sich sozial vorbildlich verhalten, indem sie etwa freiwillig gemeinnützige Aufgaben übernehmen. Zudem soll das System zu mehr Ehrlichkeit und Vertrauen in der Gesellschaft führen, wenn Bürger und Unternehmen sich an einem verbindlichen und allgemeingültigen Bewertungssystem orientieren. Das SCS hat auf individueller Ebene also in konfuzianischer, paternalistischer und meritokratischer Tradition eine erzieherische Funktion, etwas, das meilenweit vom heutigen westlichen Gesellschaftsverständnis entfernt ist. Im Idealfall soll es eine vorbeugende Selbstkontrolle etablieren, die negativ bewertetes Verhalten bereits frühzeitig im Keim erstickt.
Weitere Zielsetzungen des SCS sind die Vermeidung von Lebensmittelskandalen, die Bekämpfung der Korruption sowie die Erhöhung der Sicherheit, indem die Bürgerinnen und Bürger zur Einhaltung von Regeln und Gesetzen animiert werden. Staatliche Dienstleistungen sollen ebenfalls mit dem datengestützten System optimiert werden. Auch der Umweltschutz soll von verstärkter Kontrolle und Überwachung profitieren.
Funktionsweise des SCS
Das nationale System ist, wie gesagt, noch im Aufbau und es existieren offensichtlich sehr unterschiedliche Auffassungen über die Funktionsweise und genaue Ausgestaltung des SCS. Technisch wird das SCS mithilfe von vernetzten Datenbanken, digitalen Bild- und Tonaufzeichnungen, Big-Data- und Data- Mining-Analysen sowie mit Methoden der Künstlichen Intelligenz realisiert. Die technischen Auswertungen können auf einen riesigen Datenschatz zurückgreifen, wie er sonst nirgends auf der Welt existiert.
Schon seit einiger Zeit wird in China weitverbreitet ein Listensystem praktiziert. Es basiert auf einem sogenannten „Rap Sheet“, einer Art Führungszeugnis. In Redlists, roten Listen, werden Unternehmen und Personen dokumentiert, die besonders vorbildlich beziehungsweise systemkonform agieren. In Blacklists, schwarzen Listen, werden Unternehmen und Einzelpersonen eingeschätzt, die gegen bestehende Gesetze, Regeln und Branchenvorschriften verstoßen haben. Das Listensystem basiert auf den klassischen Anreiz- und Abschreckungsmechanismen. Datenbanken mit Listen sind heute in China öffentlich zugänglich. Einblicke gibt die „National Credit Information Sharing Platform“.
Etwas anderes ist das Punktesystem, wie es im Pilotprojekt von Rongcheng praktiziert wird. Dort starteten sämtliche Bewohner mit 1.000 Punkten. Diesen werden, je nach Verhalten, Punkte hinzuaddiert oder abgezogen. Bei der Addition von Punkten können die Privatpersonen oder die Unternehmen mit Belohnung rechnen. Ein Punkteabzug – er kann höchstens bis auf 600 Punkte gehen – führt zu Konsequenzen. Für Unternehmen bestehen sie zum Beispiel in der Verweigerung von Lizenzen und in vermehrten Betriebsprüfungen. Für Privatpersonen bringen sie Nachteile beim Reisen, bei der Nutzung von öffentlichen Dienstleistungen und bei der Bewerbung im öffentlichen Dienst.
Es ist anzunehmen, dass das Listensystem mit dem Punktesystem gekoppelt wird. Die Kombination erlaubt, dass alle anderen Personen oder Unternehmen die Bewertungen einsehen können. Die Bonitätsprüfung bei Kreditanträgen geschieht somit in einem sehr transparenten, für westliche Verhältnisse in einem wohl viel zu transparenten Verfahren.
Wichtige Bewertungsfaktoren für Privatpersonen sind im Punktesystem derzeit die Bonität und das Konsumverhalten. Aktivitäten und Regelverstöße in den Sozialen Medien sowie das Alltags- und Sozialverhalten fließen auch in das Rating ein. Wer etwa öffentliches Eigentum schützt, sich für den familiären Zusammenhalt einsetzt und sich fürsorglich um die eigenen Eltern oder erkrankte Familienangehörige kümmert, kann mit positiven Auswirkungen auf das Scoring (deutsch: Listenpunkte) rechnen. Auch das Strafregister und das Verhalten im Straßenverkehr (Schwarzfahren, Rauchen im Zug und so weiter) sind relevant für das SCS.
Spezielle Bewertungsfaktoren für Unternehmen sind die Produktqualität, das Umweltverhalten (Einhaltung von und Verstöße gegen Emissionsvorgaben), die Preisgestaltung, die Lizenzierung oder auch der Umgang mit Daten und Datentransfers. Hinzu kommen Unternehmensbewertungen durch die Nutzer der Sozialen Medien.
Akzeptanz der Kontrolle
„Wie der Westen Chinas Sozialkredit-System falsch versteht“, so lautete ein Titel des US-Computermagazins „Wired“ im Jahr 2019. Unwissen über die chinesische Realität des SCS ist der Nährboden für irrationale Ängste. Im Westen kann man sich nicht vorstellen, dass das SCS von der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung akzeptiert wird. Repräsentative Studien von Genia Kostka an der Freien Universität Berlin von 2018 zeigen, dass „eine überraschend große Mehrheit der Chinesen“ das SCS befürwortet: 80 Prozent begrüßen das SCS und nur 1 Prozent lehnt es explizit ab. Je ausgebildeter, wohlhabender, städtischer und weiter gereist, desto größer die Befürwortung. Ein ähnliches Ergebnis zeigt eine Studie der Universität Oxford. Von Kostka gibt es auch eine Untersuchung zur Akzeptanz der Gesichtserkennung. Diese kommt zum Ergebnis, dass sie in China am höchsten und in Deutschland am niedrigsten ist.
Die Chinesinnen und Chinesen sind der Überzeugung, dass ihr Alltag durch das SCS besser und reibungsloser verläuft. Ihnen seien, so Frank Sieren, ein ehrlicher und transparenter Umgang miteinander und die Sicherheit im öffentlichen Raum durch Überwachungskameras lieber als der Schutz ihrer Daten. Kontrolliert zu werden, ist laut Keyu Jin für die Menschen in China nichts Negatives, im Gegenteil, es werde erwartet, dass der Staat über die Bevölkerung wacht, sie schützt und sie fördert. Werner Rügemer formuliert in seinem Buch „Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“: „Die Chinesen wissen – im Unterschied zum kommerziell-geheimdienstlichen Ausspäh- und Verwertungs-Wildwuchs bei CIA und Facebook – über die Erfassung Bescheid und können ihre Bewertung einsehen.“ Sie haben mit staatlichen Überwachungsmaßnahmen viel weniger Probleme als die Leute im Westen, wenn dadurch ein geordnetes Zusammenleben und mehr Sicherheit im öffentlichen Raum gewährleistet wird. Die Rolle des Schiedsrichters trauen sie dem Staat eher zu als Privatunternehmen. 59 Prozent der Chinesen, so Frank Sieren, würden sich explizit wünschen, dass der Zentralstaat die Überwachung übernimmt. Das erklärt sich wohl auch durch die geschichtliche Erfahrung der letzten paar Jahrzehnte: Nachteile der rasanten Entwicklung waren ständige Improvisation, Intransparenz und Korruption und ein Staat, der immer etwas in Verzug geriet. Daraus erwuchs das Verlangen der Bevölkerung nach Ordnung, Berechenbarkeit und Transparenz, mehr als der Wunsch nach Datenschutz und Schutz vor staatlicher Macht.
Persönliche Bemerkung
Anfang der 1970er Jahre war mein Freund und Kollege Gui Bonsiepe, Professor für visuelle Kommunikation, vom neugewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende nach Chile gerufen worden, wo er in einem Team mit Ingenieuren das Projekt Cybersyn auf die Beine stellen sollte. Cybersyn war eine mit raumfüllenden IBM-Rechnern bestückte Computer-Zentrale, eine Art futuristisch anmutende Kommandozentrale. Mithilfe der damals en vogue stehenden Kybernetik sollte die chilenische Wirtschaft von der neuen sozialistischen Regierung gelenkt werden. Alle Fabriken und Lagerstätten des Landes wurden mit einfachen Fernschreibern (!) mit der Zentrale verbunden. Die Unternehmen wurden nicht verstaatlicht und steuerten sich nach wie vor selbst. Lagerbestände, Absatzzahlen und Produktionsmengen wurden aber im ganzen Land in Echtzeit erfasst. Mit Algorithmen wurde errechnet, wo Knappheiten drohten und wie Ressourcen am effektivsten verteilt werden konnten. Alle Daten wurden im Cybersyn gesammelt und verarbeitet, um der Regierung informierte Entscheidungen zu ermöglichen. Eine kybernetisch unterstützte sozialistische Marktwirtschaft! Die Bilder des „Operations Room“ von Cybersyn können noch heute unter de.wikipedia.org/wiki/Cybersyn heruntergeladen werden.
Cybersyn kam leider nicht mehr zum vollen Einsatz. Die USA, die einen sozialistischen Wirtschaftserfolg in ihrem Hinterhof nicht dulden wollten, erschwerten Chile den Außenhandel und schnitten die Wirtschaft von wichtigen Ersatzteilen ab. Eine Wirtschaftskrise war die Folge. Am 11. September 1973 wurde der Präsidentenpalast in Santiago von Truppen des faschistischen Generals Pinochet bombardiert und dabei endete auch das Leben von Präsident Salvador Allende. Die kurze Ära Allende nahm ein tragisches Ende und mit ihr Cybersyn.
Als ich damit begann, das SCS beziehungsweise die sozialistische Steuerung des hochkomplexen chinesischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems mit seinen enormen Daten-, Analyse- und Steuerungsinfrastrukturen zu beschreiben, kam mir das 50 Jahre zurückliegende Cybersyn wieder in den Sinn. Ist der chinesische Versuch einer stark vernetzten, bedürfnis- und zeitnahen Steuerung der Wirtschaft und Gesellschaft eine späte Realisierung eines „Cybersyn mit chinesischen Besonderheiten“? Vielleicht. Ich muss zugeben, dass ich zum chinesischen Sozialkredit-System eine ambivalente Haltung habe. Einerseits finde ich die Bemühungen der Chinesen spannend und avantgardistisch. Andererseits kann ich mich für die strengen konfuzianischen und etwas humorlosen Erziehungsaspekte des SCS nicht besonders begeistern. Das hängt wohl mit meiner geschichtlichen und kulturellen Einbindung in die individualistisch überdrehte westliche und Schweizer Kultur zusammen.
Beat Schneider
Chinas langer Marsch in die Moderne. Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen
PapyRossa Verlag Köln 2022, 333 Seiten, 22,90 Euro
Erhältlich unter uzshop.de
Menschen im Zug
Eisenbahner und Fotograf – Wang Fuchun
Als Kind träumte Wang Fuchun davon, Zugführer zu werden. Nach der Schule bekam er eine Stelle im Bahnhof seiner Heimatstadt – Harbin, gelegen in der Provinz Heilongjiang im Nordosten Chinas. Er machte sein erstes Foto 1977, als er gefragt wurde, vorbildliche Streckennetzarbeiter zu fotografieren. Nach und nach begann er die Menschen im Zug abzulichten. Wang beschrieb sich selbst als Bilderdieb. Er glaubte, die Bilder ohne die Einwilligung seiner Objekte zu machen sei die einzige Möglichkeit, die Realität einzufangen. Seine Art der Fotografie brachte ihn mehrmals in Schwierigkeiten. Er wurde von Fahrgästen, die sein Herumschnüffeln als verdächtig empfanden, der Polizei gemeldet.
Wangs Fotos sind Zeugnis der Veränderungen in der VR China. Die langsamen, schäbigen Züge wären üblicherweise brechend voll gewesen. „Es dauerte eine halbe Stunde, um sich durch die Massen zur Toilette zu drängeln, selbst wenn sie nur ein Dutzend Schritte entfernt war“, erinnert sich Wang.
Besonders häufig sei dies zur hektischen Zeit während des chinesischen Neujahrsfestes, oft beschrieben als die größte menschliche Migrationsbewegung der Welt.
„Die schlechten Erfahrungen verschwanden mit der Entwicklung der Hochgeschwindigkeitszüge“, sagt Wang. Doch für ihn brachte die Verbesserung auch ungewollte Nebeneffekte. Er vermisst es, dass Menschen nicht mehr nebeneinander sitzen und sich unterhalten, um die Zeit vertreiben. „Du konntest neue Freunde beim Reisen finden“, sagt er, „aber heute starren die Leute nur noch auf ihre Handys und Laptops. Reden tun sie selten.“
Wang starb im März 2021.
In dieser Beilage zeigen wir eine Auswahl von Wangs Fotos, dokumentiert auf der Internetseite von „People‘s Daily“.