Demokratie: Dekor, Transformation und Hoffnung

Dieses Land nennt sich gerne Demokratie

Von Ekkehard Lieberam

Ist eine Demokratie

in der man nicht sagen darf,

dass sie keine

wirkliche Demokratie ist,

wirklich eine

wirkliche Demokratie.

(Erich Fried,

Zur Kenntlichkeit, 1975–1977)

Zur Bundestagswahl 2017 lässt z. B. die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg keinen Zweifel daran: „Deutschland ist eine Demokratie.“ Jeder dürfe Abgeordnete wählen. Und alle Abgeordneten zusammen bildeten die Volksvertretung Bundestag. Die kritische Website „Bundestagswahl 2017“ sieht das etwas anders. Das Wahlsystem sei unübersichtlich. Nur der Bundestag, aber nicht Bundesrat, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident würden gewählt. Außerdem bestehe in Wirklichkeit eine Lobbykratie. Allein in Berlin würden 5 000 Lobbyisten für ein Primat „der wirtschaftlichen Interessen“ in Politik und Gesetzgebung sorgen.

Die Bundesrepublik nennt sich gerne Demokratie. In Wahlen entscheidet das Volk angeblich über Macht auf Zeit. An den Schulen wird das so gelehrt. Zweifel sind angebracht. Dass sie nicht allzu laut werden, dafür sorgt ein tägliches, insgesamt sehr erfolgreiches propagandistisches Verwirrspiel. Im Arsenal der bürgerlichen Propaganda ist die Karriere des Demokratiebegriffs ungebrochen. Im Namen der „abwehrbereiten Demokratie“ denunzieren die Ämter für Verfassungsschutz (auch in Thüringen!) jährlich die DKP, antifaschistische Organisationen und allein fünf Zusammenschlüsse in der Partei „Die Linke“ (Kommunistische Plattform, Antikapitalistische Linke, Sozialistische Linke, Geraer Sozialistischer Dialog und Cuba Si) als verfassungsfeindlich. Der Demokratiebegriff wird zur ideologischen Keule gegen demokratische Bewegungen.

Der Begriff Demokratie diente auch als Rechtfertigung für inszenierte „bunte Revolutionen“, gegen die „Diktaturen“ im Irak, in Libyen und Syrien. Aktuell hat Donald Trump mit der Begründung, Venezuela sei eine „Diktatur“, Wirtschaftssanktionen und eine Finanzblockade gegen dieses Land verhängt. Er lässt Teile der Opposition mit Waffen ausrüsten und droht zugleich mit direkter militärischer Gewalt. Demokratie statt Sozialismus wurde nach 1917 zur Losung der Konterrevolution.

Kampf um Demokratie ist aber zugleich Aufgabe und Losung der Unterprivilegierten und Ausgebeuteten. Sozialisten und Kommunisten kämpfen gegen den Abbau demokratischer Rechte, für Demokratie als „individuelle und kollektive Selbstbestimmung“ der Menschen über die eigenen Angelegenheiten, (Vgl. Uwe-Jens Heuer, Marxismus und Demokratie in der Geschichte des Sozialismus. Z., Nr. 30/Juni 1997, S. 106.) für eine Demokratisierung des politischen Systems und der Wirtschaft, um den Weg zu einer neuen, sozialistischen Gesellschaft zu öffnen und eine sozialistische Demokratie zu schaffen, die die Wirtschaft als wichtigsten Bereich der Gesellschaft einschließt und der bürgerlichen überlegen ist.

Bürgerliche Demokratie als Herrschaftsform

Der Demokratiebegriff ist so ein hart umkämpfter und ein vielschichtiger Begriff. Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz definiert Demokratie als Strukturprinzip des Staates, nach dem alle „Staatsgewalt … vom Volke aus(geht)“. Dazu gibt es eine den Herrschenden genehme Auslegung. Danach gehen die gegebenen Herrschaftsverhältnisse über Wahlen „vom Volke“ aus, sind also von diesem „herzuleiten“. Dazu gibt es aber auch eine „linke“ Interpretation, die das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip als Sollbestimmung in Richtung einer realen Volksherrschaft auffasst. Sie versteht das Demokratieprinzip als Aufgabe, die politische Herrschaft des Volkes zu realisieren, eine zunehmende „Teilhabe des Volkes“ durchzusetzen bzw. schließlich eine „Selbstregierung des Volkes“ zu verwirklichen. In der Debatte um das Wesen der Demokratie, in den sozialen und politischen Klassenauseinandersetzungen der beiden Grundklassen und in den Kontroversen zwischen deren gegensätzlichem Staatsverständnis treffen diese Bedeutungen immer aufs Neue aufeinander.

Sehen wir uns zunächst das Verhältnis der Herrschenden zur Demokratie an.

Für die Kapitalistenklasse ist heute (im Unterschied zur Situation Anfang der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts als die Hälfte der westeuropäischen Länder offen terroristische Diktaturen waren) die parlamentarische (bzw. die präsidiale oder semipräsidiale) Demokratie mit allgemeinen Wahlen in allen entwickelten kapitalistischen Staaten zur Form der Kapitalherrschaft geworden. Das ist Dekor, aber auch real, weil mit neuen Herrschaftstechniken verbunden, die mittels der parlamentarischen Demokratie möglich geworden sind.

Der kapitalistische Klassencharakter der bestehenden Herrschaft wird verhüllt. Herrschaft erscheint als ein Resultat von in Wahlen miteinander um „die Macht“ konkurrierender Parteieliten und bleibt so den meisten Menschen als Klassenherrschaft verborgen. Die bestehenden Herrschaftsverhältnisse werden als „Herrschaft mit Zustimmung des Volkes“ (Peter Graf Kielmansegg) legitimiert. „Immer, wenn die demokratischen Institutionen in der Lage schienen, die kapitalistische Ordnung aufrecht zu erhalten, hat man sie auch beibehalten“, schrieb der französische Politologe Maurice Duverger Anfang der siebziger Jahre (Demokratie im technischen Zeitalter, München 1973, S. 144.). Bereits 1917 verwies Lenin darauf, dass die „demokratische Republik“ die „denkbar beste Hülle des Kapitalismus“ ist, nachdem das Kapital „von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat“, so „dass kein Wechsel der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.“ (W. I. Lenin, Staat und Revolution, LW, Bd. 25, Berlin 1981, S. 405.)

Die parlamentarische Demokratie hat sich aber nicht nur als mit der Kapitalherrschaft vereinbar erwiesen. Sie entpuppte sich auch als eine erfolgreiche „Methode“ des Regierens (Joseph Schumpeter) mit neuen Vorteilen: als ein System von Institutionen und Strukturprinzipien (Wahlen, Parteienstaat, parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, Grundrechte, Teilung und Kontrolle der Gewalten), das als politisch brauchbarer „Konfliktregulierungsmechanismus“ (Ralph Dahrendorf) funktioniert, mit dem es gelingt, immer wieder antikapitalistische Gegenkräfte (die Grünen, die Partei „Die Linke“) zu integrieren, deren Parteien und Organisationen zu „mäßigen“. Sie wurde (nicht zuletzt durch die Wahlen) zu einem „Frühwarnsystem“, das den Herrschenden die Zunahme gesellschaftlicher Konflikte signalisiert und zugleich „Auslass und Kanäle für die Flut“ (Helmut Schmidt) für Krisenzeiten bereit hält. Auch mit den politischen Grundrechten, einschließlich des Wahlrechts, kommen die Herrschenden recht gut zurecht. Dafür sorgt die Meinungsmanipulation.

Im „goldenen Zeitalter“ des Kapitalismus bis Mitte der siebziger Jahre entwickelte sich die parlamentarische Demokratie unter dem Druck von Klassenkämpfen und vor allem der Systemauseinandersetzung fast überall zu einem asymmetrischen (weil die Herrschaftsverhältnisse nicht in Frage stellenden) sozialstaatlichen Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit. Im Zuge der neoliberalen Kapitaloffensive haben die Regierenden mittlerweile diesen Kompromiss auf ein niedrigeres Niveau abgesenkt und wollen ihn weiter absenken.

Transformation und

Niedergang der

parlamentarischen Demokratie

„Die heutige Demokratie ist als (Aktualität) (vorläufige) aktuelle Aufgipfelung einer Jahrhunderte langen Entwicklung, die eines manipulierten, mit Hilfe von Manipulation herrschenden Imperialismus“ (Georg Lukacs, Sozialismus und Demokratisierung, Frankfurt/Main 1987, S. 24.), schätzte Georg Lukacs vor mehr als 30 Jahren ein.

Die Transformation der parlamentarischen Demokratie zu einer für das Kapital brauchbaren Herrschaftsform und Herrschaftsmethode war nicht zuletzt auf vielfältige Weise durch den Einbau autoritärer, offen antidemokratischer Strukturen gekennzeichnet. Zahlreiche Regierungsinstitutionen, Geheimdienste und „unsichtbare Regierungen“, ein mächtiger Überwachungsstaat operieren mit diktatorischen Methoden außerhalb der Reichweite parlamentarischer Institutionen und öffentlicher Kontrolle. Die bürgerlichen Massenmedien sind zu Regierungsinstitutionen geworden. Fast alle Parlamentsparteien orientieren sich an den Interessen der „Wirtschaft“.

Mit der Internationalisierung der Herrschaftsstrukturen des Kapitals wurden überdies zahlreiche Kompetenzen der nationalen Parlamente, vor allem das Budgetrecht und das Recht auf Gesetzgebung massiv eingeschränkt. Von den Rechtsakten der Bundesrepublik stammten nach Roman Herzog in den neunziger Jahren 84 Prozent aus Brüssel und nur 16 Prozent aus Berlin. Die Staats- und Regierungschefs der NATO (für die BRD die Bundeskanzlerin!) legten 2014 fest, innerhalb von zehn Jahren ihren jeweiligen Rüstungsetat auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BRD 2015: 1,18 Prozent) zu erhöhen. Das wäre für die Bundesrepublik gegenüber 2014 eine reale Erhöhung der Rüstungsausgaben auf etwa das Doppelte!

Mit den anhaltenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals im Zuge der dritten industriellen Revolution, aber auch der nicht zu übersehenden Krise des Widerstands der Lohnarbeiter bei der Verteidigung ihrer Interessen, prägte sich der Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie weiter aus. Es kam zur Kürzung von sozialen Rechten und Arbeiterrechten. Gerade im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg zeichnet sich unter anderem eine Verschärfung des politischen Strafrechts, so der Bestimmungen über den Landfriedensbruch, ab.

Die Staatspolitik folgte mit der Agenda 2010 devot den Wünschen des Großkapitals und „liberalisierte“ den Arbeitsmarkt, worauf unter anderem die Reallöhne der Geringverdiener zwischen 1995 und 2015 bis zu 10,7 Prozent zurückgingen. (Vgl. Eva Roth, Wertverfall, ND vom 2./3. September 2017.)

Derzeit gibt es im Bundestag wieder (nachdem dies von 1953 bis 1990 nicht mehr der Fall war) mit der „Die Linke“ eine Fraktion, die als parlamentarische Opposition die Interessen der Lohnarbeiter und die im Grundgesetz fixierten demokratischen Rechte gegen das Kapital und die staatliche Repressivgewalt verteidigt. Nach den Bundestagswahlen 2017 wollen führende Politiker dieser Partei möglichst mitregieren (wenn dies rechnerisch möglich sein sollte), womit die herrschende Klasse die parlamentarische Demokratie wieder voll im Griff hätte.

Derzeit gibt es international etwa 20 000 Bücher, die sich mit der parlamentarischen Demokratie und ihrem Schicksal beschäftigen, deren Veränderungen untersuchen und beschreiben. Auf zwei sei hier besonders verwiesen: auf die Publikationen des linken Politikwissenschaftlers Colin Crouch, der vor einigen Jahren über die Herausbildung einer „Postdemokratie“ schrieb (Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008.) und auf ein vor zwei Monaten bei „edition ost“ erschienenes Buch des marxistischen Staatsrechtlers Herbert Graf (Herbert Graf, Von der Demokratie zur Agonie, Berlin 2017.) über die Entwicklung von der „Demokratie zur Agonie“. Colin Crouch macht besonders auf die „innere Aushöhlung der Demokratie“ aufmerksam, wobei dieser Prozess noch im vollen Gange sei. Er verweist darauf, dass die demokratischen „Rituale“ fortbestehen und, obwohl nahezu irrelevant, so funktionieren als ob sie noch „das tragende Skelett des Staates“ seien. Eine wichtige Ursache dafür sieht er zu Recht im „Niedergang der traditionellen Arbeiterklasse“. (Colin Crouch, S. 70. Vgl. auch Ekkehard Lieberam, Krise und Manövrierfähigkeit der parlamentarischen Demokratie, Bergkamen 2012, S. 27 ff.) Graf verweist darauf, dass mit dem wachsenden Heer der Lobbyisten die „Macht der Wirtschaft“ zur Allmacht geworden ist. Hinzu gekommen seien Staatsschulden und Schuldenbegleichung als „Fesseln demokratischen Handelns“ als realer Hintergrund für das von Angela Merkel geprägte Wort von der marktkonformen Demokratie. (Herbert Graf, S. 47 ff. und S. 140 ff.)

Demokratisierung als

antikapitalistische Alternative

Lenin schreibt in „Staat und Revolution“ nicht nur, dass die demokratische Republik die beste Hülle des Kapitalismus ist, sondern, dass „diese Form der Unterdrückung“ für das Proletariat auch eine positive Seite hat: „Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebung der Klassen überhaupt.“(LW, Bd, 25, S. 467) Im Kampf für ihre unmittelbaren sozialen Interessen, wie im Kampf für grundlegende soziale Reformen und für eine andere Gesellschaft bietet die parlamentarische Demokratie der Arbeiterklasse trotz ihrer Transformation vielfältige Möglichkeiten. Sie muss sie nur tatsächlich nutzen.

Wenn heute im Bundestagswahlkampf bei dem „Schlagabtausch“ der Spitzenkandidaten gähnende Langeweile aufkommt, von Fassaden-Demokratie gesprochen wird, so gibt es dafür vor allem eine Ursache: den Niedergang der Arbeiterklasse als politischer Akteur, als für ihre Interessen kämpfende Klasse. Kampf um Demokratie bedeutet deshalb vor allem Kampf um Aufklärung über die politischen Zustände, um politische, gewerkschaftliche und geistig-kulturelle Gegenmacht, um Hegemonie gegen das Kapital, insgesamt um eine Veränderung der Klassenmachtverhältnisse, die es ermöglicht, entschieden stärker die Interessen der Arbeiter in den politischen Prozess einzubringen und zumindest teilweise durchzusetzen.

Die Zukunft der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie ist ungewiss. Unverkennbar drohen im 21. Jahrhundert weitere autoritäre Deformationen. Die Gefahr eines neuen Faschismus wird im Krisenkapitalismus zunehmen. Abwehrkämpfe gegen den Abbau demokratischer Rechte und Kämpfe für die Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft werden notwendiger denn je. Dabei dürfen sich die Linken nicht der Illusion hingeben, ein mehr an Demokratie könne irgendwann den Sozialismus bringen. Mit der Demokratiefrage müssen sie immer zugleich die Eigentumsfrage und die Machtfrage stellen: „Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen. Im Leben aber wird der Demokratismus nicht ‚für sich genommen’, sondern mit anderen Erscheinungen ‚zusammengenommen’, er wird seinen Einfluss auf die Ökonomik ausüben, ihre Umgestaltung fördern, dem Einfluss der ökonomischen Entwicklung unterliegen usw. Das ist die Dialektik der lebendigen Geschichte.“ (Ebenda, S. 466)

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"Dieses Land nennt sich gerne Demokratie", UZ vom 22. September 2017



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