Dieser Prozess ist wichtig

UZ: Die brutalen Übergriffe der Polizei gegen Gegnerinnen und Gegner des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ im Stuttgarter Schlossgarten jährten sich kürzlich zum fünften Mal. Sieben Opfer der Staatsgewalt, darunter auch der aufgrund des Wasserwerfereinsatzes fast erblindete Dietrich Wagner klagen aktuell gegen das Land. Das dortige Verwaltungsgericht prüft derzeit, ob der Polizeieinsatz rechtmäßig war. Zu welchem Schluss kommen Sie?

Uwe Hiksch: Das repressive Vorgehen der Polizei gegen Demonstrierende nimmt in Deutschland zu. Im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Stuttgart 21 wurde ja der unsägliche Begriff „Wutbürger“ geprägt, der ausdrücken sollte, dass sich BürgerInnen aus dem gesellschaftlichen Bildungsbürgertum gegen staatliche Planungen wehren. Neu erschien bei Stuttgart 21, dass dieser Widerstand bis tief in das liberale Bürgertum hineinreicht. Dabei ist diese Form von Widerstand nichts Neues: Die Anti-Atom-Proteste, ich denke hier nur an den Widerstand gegen das geplante AKW am Kaiseraugust im Jahr 1975, waren auch bürgerlicher Widerstand. Auch die Friedensbewegung der 80er Jahre wurde von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen.

Die Entwicklung des Widerstandes gegen Stuttgart 21 hat aber sehr exemplarisch gezeigt, dass ein bürgerliches, ja auch wertkonservatives Spektrum, Widerstandsformen entwickeln kann, die Elemente des zivilen Ungehorsams in den Aktionskonsens aufnehmen. Diese Entwicklung wurde von der damaligen Landesregierung als bedrohlich empfunden.

Bei dem Polizeieinsatz gegen die Demonstrierenden wurde gesetzeswidrig vorgegangen. Gegen die Stuttgart-21-GegnerInnnen wurde brutalste Gewalt angewandt und in Kauf genommen, dass Menschen massiv zu Schaden kommen. Grundsätzlich erleben wir, wie Widerstand, ich denke hier nur an das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Blockupy-AktivistInnen, an die Repressionen und Übergriffe durch die Polizei bei antirassistischen und antifaschistischen Demonstrationen oder auch an die Repression im Umfeld von antimilitaristischen Aktionen, immer wieder kriminalisiert werden und die Gewalt gegen Demonstrierende zunimmt.

UZ: Sind die Chancen, eine juristische Auseinandersetzung gegen die Polizei zu gewinnen nicht äußerst gering?

Uwe Hiksch: Leider müssen wir bei vielen Prozessen feststellen, dass die Verwaltungsgerichte trotz offensichtlichen Rechtsbruchs der Polizei für diese entscheiden und damit dieses repressive Vorgehen des Staatsapparates nachträglich legitimieren. Deswegen sind die Chancen in solchen Prozessen zu gewinnen sehr gering.

Trotzdem sind Prozesse gegen Repression und Polizeigewalt wichtig. Mit solchen Prozessen können Fakten aufgezeigt und Gegenöffentlichkeit organisiert werden. In den Prozessen werden die Verantwortlichen gezwungen, Fakten auf den Tisch zu legen. Gleichzeitig können die Betroffenen die Prozesse dafür nutzen, eine kritische Sicht auf die vorhandene Repression und Gewalt aufzuzeigen. Es hat eine lange Tradition in der politischen Linken, dass Gerichtsprozesse auch als Möglichkeit für Aufklärung und Gegenöffentlichkeit genutzt wurden. Ich denke hier nur an die großen Prozesse zum Beispiel gegen Karl Liebknecht oder auch im Leipziger Hochverratsprozess gegen August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

UZ: Fernab des laufenden Verfahrens: Wurden die Gewaltexzesse der Staatsmacht bisher politisch und gesellschaftlich ordentlich aufgearbeitet?

Uwe Hiksch: Gesellschaftlich wurden diese Gewaltexzesse in keiner Weise aufgearbeitet. Wenn wir uns nur die Diskussionen im Landtag von Baden-Württemberg oder die Diskussion im Deutschen Bundestag zu dem Vorgehen der Polizei bei der Stuttgart-21-Demo anschauen, ist das mehr als beschämend. Von den Regierungsfraktionen wurde das Vorgehen weitestgehend verteidigt.

Noch immer gibt es keine breite gesellschaftliche Diskussion über die zunehmenden Repressionen in Deutschland. Repression wird von staatlichen Stellen bewusst eingesetzt, um Menschen einzuschüchtern und sie zu disziplinieren. Ziel ist, die Menschen gefügig für das bestehende System zu machen. Die staatliche Repression reicht dabei von den rassistisch motivierten Gesetzen gegen MigrantInnen, über die Hartz-IV-Gesetzgebung bis zu der zunehmenden staatlichen Überwachung, Kontrolle und Repression.

UZ: Vor einigen Wochen sind neue Videos aufgetaucht, die den maßlosen Einsatz von Pfefferspray gegen Jugendliche zeigen. Sollte der Einsatz dieses chemischen Kampfstoffes bei Demonstrationen nicht endgültig verboten werden, wie es etwa die Bundestagsabgeordnete Karin Binder (Linkspartei) vehement fordert?

Uwe Hiksch: Der Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei gegen Demonstrierende nimmt ständig zu. Ich halte dies für nicht akezeptabel und unterstütze ausdrücklich den Vorschlag von Karin Binder, Pfefferspray zu verbieten. In den USA wurden bereits mehr als 20 Todesfälle nach dem Einsatz von Pfefferspray registriert. Auch in Deutschland gab es bereits mehrere Todesfälle nach einem Pfefferspray-Einsatz.

In einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages wurde darauf hingewiesen, dass Asthmatiker, Allergiker und blutdrucklabile Personen bei Einsatz von Pfefferspray einer erhöhten Gefahr indirekter gesundheitlicher Folgen ausgesetzt seien.

UZ: Wie sollten die Opfer der Polizeigewalt entschädigt werden?

Uwe Hiksch: Opfer von Polizeigewalt müssen ein Recht auf Widerspruch und auf kostenfreien Zugang zu einer juristischen Unterstützung erhalten. Wenn Menschen durch einen gesetzeswidrigen Gewalteinsatz durch PolizeibeamtInnen verletzt oder geschädigt werden, haben sie einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen.

UZ: Baden-Württemberg wird seit 2011 von einer „grün-roten“ Koalition regiert. Haben die Grünen die Erwartungen ihrer Wähler erfüllt?

Uwe Hiksch: Die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg hat in einer Reihe von wichtigen Fragen Positionen bezogen, die mit den Erwartungen vieler Wählender nicht übereinstimmen. Stuttgart 21 ist ein Beispiel. Auch wenn innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen durchaus viele Aktive den Bau von Stuttgart 21 ablehnen, hat sich die Landesregierung entschieden, dieses Projekt zu akzeptieren und politisch zu begleiten. Natürlich war die Volksabstimmung ein Punkt, in dem die Begründung für eine Ablehnung des Projektes für eine Landesregierung schwieriger wurde. Trotzdem wäre eine kritischere Begleitung dieses Wahnsinnsbaus sinnvoller und glaubwürdiger gewesen.

Auch die Zustimmung zum Asylbewerberbeschleunigungsgesetz ist in keiner Weise mit den Grundpositionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die sie noch im Wahlkampf bezogen hatten, zu vereinbaren.

UZ: Rechnen Sie damit, dass der Linkspartei im kommenden Jahr der Einzug in den Landtag Baden-Württembergs gelingt?

Uwe Hiksch: Der Wahlkampf in Baden-Württemberg wird sich intensiv auf die Frage zuspitzen, ob weiterhin eine Landesregierung aus Grünen und SPD regieren kann, oder ob die CDU wieder den Ministerpräsidenten stellt. In einem solchen – auf den ersten Blick – zugespitzten Wahlkampf, wird es für die Linkspartei schwierig werden, um Stimmen zu werben. Für die Linkspartei wird es wichtig sein, mit klaren Positionen in den Wahlkampf zu gehen und sich als politische Alternative darzustellen.

Ich möchte hier nur die Frage von „offenen Grenzen für Menschen in Not“ oder für einen konsequenten Einsatz für die Geflüchteten ansprechen. Auch eine konsequente Auseinandersetzung mit der „Rüstungsschmiede Baden-Württemberg“ ist meines Erachtens wichtig. Mit klaren Forderungen nach einen konsequentem Verbot des Exportes von Rüstungsgütern und einem Konversionsprogramm für die Rüstungsindustrie in Baden-Württemberg könnte die Linkspartei durchaus Wählende aus dem alternativen fortschrittlichen Milieu erreichen.

Bisher hat die grün-rote Landesregierung keine wirklich substantielle Veränderung der Regierungspolitik in Baden-Württemberg umsetzen können. Ministerpräsident Kretschmann versucht durch eine im Grunde wertkonservative Politik Wählende aus dem konservativen Lager an die Grünen zu binden. Dadurch bleiben wichtige Fragen, die Forderung nach einer Konversion der Automobilindustrie, eine neue Verkehrs- und Energiepolitik oder eine grundsätzliche Forderung nach einer neuen Wirtschaftspolitik weitgehend auf der Strecke. Ob die Partei „Die Linke“ hier klare Alternativen in ihrem Wahlprogramm aufzeigen wird, muss sich zeigen.

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"Dieser Prozess ist wichtig", UZ vom 6. November 2015



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