Sevim Dagdelens Rede auf der Friedensdemonstration in Kalkar am 3. Oktober

„Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“

Am 3. Oktober haben Kriegsgegner unter anderem in Berlin, Hamburg, Stuttgart, München, Düsseldorf und Kalkar an den Zwei-plus-Vier-Vertrag zum „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ erinnert. Darin verpflichteten sich die beteiligten Staaten, eine europäische Friedensordnung aufzubauen, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten, auch die Russlands, berücksichtigt. Die NATO tat mit ihrer Osterweiterung das Gegenteil und führt heute Krieg gegen Russland. Die Demonstranten forderten Verständigung mit Russland, den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und Friedensverhandlungen.

In Kalkar sprach Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei. Wir dokumentieren ihre Rede hier in voller Länge:

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

nichts wird deutlicher in diesen Tagen: Wir leben in Zeiten des Krieges. Aus dem Krieg in der Ukraine ist ein furchtbarer Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland geworden, wie auch ein gerade für Deutschland selbstzerstörerischer Wirtschaftskrieg mit immer mehr und immer dümmeren Sanktionen.

Grund des Krieges

Wenn es um die wahren Kriegsgründe geht, wird von der Bundesregierung gerne ein ganzer Regen an Legenden verbreitet, der medial tausendfach verstärkt auf die Hirne der Menschen niederprasselt. Nur allzu oft müssen wir erleben in Diskussionen und Debatten, dass sich viele, wenn auch nicht die Mehrheit, dumm machen lassen von dieser Kriegspropaganda. Deshalb möchte ich gern den NATO-Generalsekretär zu dieser Sache befragen, denn seine eigene Antwort straft alle Märchen der Bundesregierung zu diesem Thema Lügen.

Vor einem gemeinsamen Ausschuss des Europäischen Parlaments sagte Jens Stoltenberg am 7. September 2023: „Präsident Putin erklärte im Herbst 2021 – und schickte sogar einen Vertragsentwurf, den die NATO unterzeichnen sollte –, dass man versprechen müsse, dass es keine weitere NATO-Ausdehnung geben werde. Das war es, was er uns geschickt hat. Und [das] war eine Vorbedingung dafür, dass sie nicht in die Ukraine einmarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.“

Putin sei in den Krieg gezogen, so Stoltenberg weiter, „um die NATO und immer mehr NATO an den russischen Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht.“

Hier ist offenbar der irrationale Kern des Krieges, der geradezu nach einer Verhandlungslösung schreit, statt ständig neue Menschen und neues Material in einen mörderischen Abnutzungskrieg zu schicken, der keinen Sieger und nur Verlierer kennt.

Es ist unerträglich, dass diese Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, unterstützt von der Union, in unheimlicher und fataler Nibelungentreue zu den USA keine einzige diplomatische Initiative auf den Weg bringt, aber stattdessen immer mehr und immer schwerere Waffen an die Ukraine liefert. Nach den deutschen Kampfpanzern sollen es jetzt Marschflugkörper „Taurus“ sein, atomar bestückbar und mit der Reichweite, russische Städte zu treffen. Ich frage, wer fällt diesen Wahnsinnigen in den Arm? Warum wird hier leichtfertig mit dem Feuer einer direkten deutschen Kriegsbeteiligung gespielt?

Wirtschaftskrieg und sozialer Krieg

Immer wieder höre ich von denen, die für Waffenlieferungen an die Ukraine und den Wirtschaftskrieg gegen Russland trommeln, das alles wäre zum Nulltarif zu haben. Welch eine Verkennung der Realität.

Die Bundesregierung ist dabei, Deutschland zu einem regelrechten Militärstaat umzubauen. In der Haushaltsplanung für 2024 werden die Militärausgaben auf über 85 Milliarden Euro gesteigert.

Ein Fünftel des Haushalts geht in Waffen und Militär. Ein Fünftel, das muss man sich einmal vorstellen. In den letzten Monaten allein 18 Milliarden Euro für Waffengeschenke an die Ukraine und jetzt 93 Prozent Kürzungen beim Müttergenesungswerk und bei Familienfreizeitstätten.

Die Beteiligung am NATO-Stellvertreterkrieg ist deshalb nichts anderes als ein sozialer Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Und auch deshalb sagen wir: Kein Krieg ist unser Krieg. Auch dieser nicht! Stoppen wir diesen Wahnsinn.

Und das gilt doch genauso für den irrsinnigen Wirtschaftskrieg. Deutschland verzeichnet in diesem Jahr einen Wirtschaftseinbruch von -0,6 Prozent und Russland ein Plus von bis zu 2,8 Prozent. Wir importieren jetzt dreckiges, sauteures Fracking-Gas aus den USA und russisches Öl statt über Pipeline per Tanker aus Indien, nur eben viel, viel teurer. Ja, wie dumm kann man denn sein?!

Diese perfide Doppelmoral der Bundesregierung ist selbstzerstörerisch. Das aber nicht genug. Wir erleben die brutalste Umverteilung von unten nach oben seit dem Zweiten Weltkrieg. 2022 war für die Beschäftigten das Jahr mit den größten Reallohnverlusten von vier Prozent, während die Gewinne der 40 Dax-Konzerne auf 171 Milliarden Euro geradezu explodierten. Und die Bundesregierung steht dabei Schmiere. Nein, auch deshalb sagen wir: Kein Krieg ist unser Krieg. Auch dieser nicht! Wir wollen Gerechtigkeit!

Antifaschismus

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, in diesen Zeiten des Krieges erleben wir es immer wieder, dass versucht wird, den Schwur von Buchenwald auseinanderzureißen: „Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus.“ Doch wer das tut, der verabschiedet sich vom Antifaschismus selbst. Das müssen wir klar und deutlich sagen, denen, die meinen, deutsche Waffen zu liefern und bei den Bombardierungen anderer Länder Beifall zu klatschen, hätte irgendetwas mit Antifaschismus zu tun.

Wir sagen es denen, auch wenn sie es nicht hören wollen: Der Schwur „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Faschismus“ gehört zusammen. Gestern, heute, morgen.

Und das gilt aber auch für die Brandmauer gegen rechts in unserem Land. Man kann nicht glaubwürdig gegen die menschenverachtende Ideologie eines Herrn Höcke Front machen und dem Naziversteher Melnyk die Hand reichen und hofieren.

Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung auf meine Anfrage hin der Öffentlichkeit beschieden, dass sie beispielsweise die SS-Division „Galizien“, die sich vor allem aus Ukrainern zusammensetzte, von denen einer, der Herr Hunka, jetzt in Kanada traurige Berühmtheit erlangte, nicht pauschal als rechtsextrem und antisemitisch einordnet. Das muss man sich einmal vorstellen.

Bei Leuten, die an der Seite von Hitler und SS-Führer Himmler tausende Juden, Polen und Russen ermordeten, da hat die Ampel-Regierung jetzt Zweifel, ob man die pauschal als antisemitisch und rechtsextrem bezeichnen sollte. Das ist widerlich und zeigt, in welch atemberaubendem Tempo die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit revidiert wird.

Dazu passt ein aktueller Beitrag im Springer-Konzernmedium „Politico“ mit dem Titel: „Wer gegen die Sowjetunion kämpfte, war nicht unbedingt ein Nazi“ („Fighting against the USSR didn’t necessarily make you a Nazi“). Darin schreibt man: „konditioniert daran zu glauben, dass die Hauptaufgabe der SS der Völkermord war“ („…conditioned to believe the SS’s primary task was genocide.”).

Weißwaschen also der SS? Wie tief wollen die liberalen Kriegstreiber noch sinken? Eine Schande, dass Springers „Politico“ wie ein billiges Naziblatt klingt. In der nächsten Ausgabe von „Politico“ wird wahrscheinlich die Frage bearbeitet, ob SS-Führer Himmler Nazi war. Und dass seine Massenmorde differenziert zu beurteilen seien, im Lichte des Ukraine-Krieges? Was für ein widerlicher Geschichtsrevisionismus!

Wir erleben es hier: Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte, ein Krieg um die Erinnerung. Und auch deshalb sagen wir, diese Bundesregierung darf damit nicht durchkommen. Und auch deshalb sagen wir, kein Krieg ist unser Krieg. Auch dieser nicht! Es braucht einen sofortigen Stopp des sinnlosen Mordens und eine Verhandlungslösung!

Kriegsdienstverweigerer

Und ein letztes, etwas, was mir ganz, ganz wichtig ist: Ich finde es ungeheuerlich, dass die Bundesregierung russischen und ukrainischen Kriegsdienstverweigerern, die sich dem sinnlosen Gemetzel entziehen wollen, nicht garantieren will, dass sie nicht zurückgeschickt werden.

Wenn, wie jetzt geschehen, die Selenski-Administration die Auslieferung der ukrainischen Kriegsdienstverweigerer fordert, dann muss doch die ganz klare Antwort sein: Nein, nein und nochmals nein.

Diese Leute müssen hier Schutz bekommen. Dafür wollen wir Druck machen. Die Kriegstreiber dürfen nicht durchkommen. Die Kriegsdienstverweigerer dürfen nicht in den Krieg geschickt werden!

Fotogalerie:

18 IMG 4916 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
09 IMG 4841 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
07 IMG 4794 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
32 P1510569 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
01 IMG 4758 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
signal 2023 10 03 14 30 55 750 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
1000008207 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
Ernst Wilhelm Grueter 20231003 r mediabase1 - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
Ernst Wilhelm Grueter 20231003 r mediabase - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
Stuttgart - „Dieser Krieg ist auch ein Krieg um die Geschichte und Erinnerung“ - Friedensbewegung, Kalkar, Sevim Dagdelen, Ukraine-Krieg - Blog
previous arrow
next arrow
 

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.



UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
Unsere Zeit