Die Menschen in Syrien sind erschöpft. Der Wiederaufbau des Landes muss praktisch aus dem Nichts erfolgen. Die EU gehört zu denen, die eine Erholung des schwer gebeutelten Landes verhindern wollen. UZ-Interview mit der Journalistin Karin Leukefeld, die unter anderem für die Tageszeitung „junge Welt“ regelmäßig aus Syrien berichtet. Teil II des Interviews erscheint in der nächsten Ausgabe.
UZ: Karin, du warst vor kurzem wieder in Syrien – wie wirken sich die Sanktionen der EU und der USA auf den Alltag der Syrer aus?
Karin Leukefeld: Die Sanktionen – seitens der EU spricht man von „einseitigen wirtschaftlichen Straf- oder Beugemaßnahmen“ – verhindern Investitionen im Land. Die wären wichtig, um den Wiederaufbau von Fabriken und Häusern zu finanzieren, um notwendige Maschinen einzukaufen, Ersatzteile und Rohstoffe zu kaufen, um Reparaturen der Infrastruktur zu ermöglichen. Es gibt viele reiche Syrer, die aktuell ihre Betriebe – und damit ihr Kapital – in Ägypten oder in der Türkei haben. Manche haben ihr Geld auf Banken in anderen Ländern, auf das sie – selbst wenn sie nicht auf den Sanktionslisten der EU oder der USA stehen – keinen Zugriff haben. Sie werden von der Rückkehr nach Syrien durch die Sanktionen abgeschreckt. Syrische Geschäftsleute, die beispielsweise Konten im Libanon haben und über Beirut ihre Geschäfte abgewickelt haben, kommen wegen der Banken- und Finanzkrise im Libanon ebenso wenig an ihr Geld wie die Libanesen. Das wird durch die Finanzsanktionen der USA gegen Syrien, Libanon und Iran – die als regionale Nachbarn kooperieren – verschärft.
Syrien hat eine Mischwirtschaft, es gibt private Unternehmen und es gibt staatlich organisierte Wirtschaftsbereiche. Die staatlichen Unternehmen, die vielen Menschen bis heute Arbeit und Brot geben, können keine oder zu wenige Arbeitsplätze oder Ausbildungseinrichtungen schaffen. Es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften, an Facharbeitern, die ja in Syrien vor dem Krieg ausgebildet wurden. Sie dienen in der Armee, kämpfen bei den Dschihadisten, sind in die Nachbarländer geflohen oder nach Europa, oder sie sind tot, verschwunden oder im Gefängnis.
Die syrische Wirtschaft und Landwirtschaft, die regional ein treibender Faktor war, wurde im Krieg absichtlich zerstört. Die Sanktionen sind nun ein Instrument des Wirtschaftskrieges, der nach dem Krieg die Zerstörung Syriens fortsetzt und das Land geradezu stranguliert. In der Studie „Die Neue Wirklichkeit der Außenpolitik“ der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt es, dass im 21. Jahrhundert die Märkte zu einem der wichtigsten Schlachtfelder geworden seien. „Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen ermöglicht es den Entscheidungsträgern in den USA und Europa, ihren Gegnern genauso hohe politische und wirtschaftliche Kosten wie mit einem Kriegseinsatz aufzuerlegen, um deren Entscheidungsfindung zu beeinflussen, ohne (eigene) Soldaten ins Unglück schicken zu müssen.“
UZ: Wie ist die Situation bei den Binnenflüchtlingen?
Karin Leukefeld: Die meisten Inlandsvertriebenen, bis zu 2 Millionen Menschen, leben in Lagern entlang der syrisch-türkischen Grenze in den Provinzen Idlib und Aleppo. Selbst wenn sie in ihre ursprünglichen Wohngebiete zurückkehren wollen, werden sie von den bewaffneten Gruppen – insbesondere Hay’at Tahrir al Sham, ehemals Nusra Front – mit Drohungen und Gewalt daran gehindert. Diese Menschen sind ein Spielball in diesem Krieg. Wo sie sind, gibt es internationale Hilfe, auch grenzüberschreitend aus der Türkei.
Es gibt Inlandsvertriebene im Gebiet unter Kontrolle der Kurden und US-Amerikaner nordöstlich des Euphrats. Sie kehren selten in ihre ursprüngliche Heimat – zumeist um Aleppo – zurück. Der Grund ist mangelnde Arbeitsmöglichkeit, möglicherweise wurde das Haus zerstört, und in den Gebieten, die von den Kurden der Syrischen Demokratischen Kräfte kontrolliert werden, können sie Arbeit finden und bis zu 200 US-Dollar im Monat verdienen. In US-Dollar, nicht in syrischen Pfund.
In den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung sind viele Inlandsvertriebene in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Ich habe mit einigen in Homs sprechen können.
Auch zehntausende Flüchtlinge aus Jordanien und dem Libanon sind in den letzten zwei Jahren nach Syrien zurückgekehrt. Obwohl es für ihre Rückkehr keine internationale Hilfe oder Unterstützung von UN-Organisationen gibt, kehren sie zurück.
UZ: Im Sommer war nach offiziellen Angaben wegen Corona die Kapazität der Intensivversorgung erschöpft. Nach einer Abschwächung der Infektionsrate steigen die Zahlen aber mittlerweile eher an. Welche Maßnahmen ergreift die Regierung, wie geht die Bevölkerung damit um?
Karin Leukefeld: Es gibt unterschiedliche Angaben über die Zahl der an Covid-19 Erkrankten. Die offizielle Zahl liegt bei circa 6.000. UNO-Organisationen gehen von bis zu 80.000 erkrankten beziehungsweise infizierten Personen in Syrien aus. Während ich im September in Syrien und im Libanon war, hörte ich Zahlen von bis zu 200.000 Erkrankten. Das lässt sich nicht überprüfen.
Von Freunden und Bekannten hörte ich, dass sie krank gewesen seien und sich wieder erholt hätten. Vor allem im August habe es in Damaskus viele Kranke und auch viele Tote gegeben. Aber diese Leute wurden nicht getestet, sie vermuten, es war das Coronavirus, an dem sie erkrankt und andere gestorben seien. Es gibt in Damaskus sechs Labore, die testen. Ein Test kostet einen Monatslohn, das heißt, kaum jemand kann es sich leisten, so einen Test machen zu lassen.
In öffentlichen Einrichtungen, Ministerien wird man desinfiziert, wenn man das Gebäude betritt, an anderen Orten stehen Desinfektionsmittel. Masken tragen viele, aber nicht alle Menschen. Abstand ist schwierig einzuhalten, viele Familien haben zu Hause kein warmes Wasser und überhaupt nicht genug Wasser, um sich häufig die Hände waschen zu können.
Die Bedingungen sind also schwierig. Der UN-Generalsekretär António Guterres hat wiederholt die westlichen reichen Industrienationen aufgefordert, ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen die betroffenen Länder einzustellen, damit diese ihre Bevölkerung besser vor dem Coronavirus schützen können. Die reichen Staaten – auch Deutschland – stellen sich taub.
UZ: Kriegszerstörungen, Kriegsverletzungen und Traumata, Sanktionen, Preissteigerungen – (wie) kann eine Gesellschaft das überhaupt aushalten?
Karin Leukefeld: Die Menschen sind natürlich erschöpft, müde. Manche sind nervös, viele werden krank, manche werden depressiv, zynisch – es gibt viele Reaktionen, die man bei der Bevölkerung erlebt. Aber auch wenn es teilweise harsche Kritik an der Regierung gibt, wollen die Leute mit ihrem Leid und ihren Sorgen nicht Kronzeugen für „die Feinde Syriens“ werden, die einen politischen Umsturz anstreben.
Zu den „Feinden Syriens“ zählen viele Syrer heute auch die Europäische Union. Die Syrer sind zutiefst enttäuscht von den europäischen Staaten, die sie vor zehn Jahren noch als Unterstützer und Verbündete ansahen und die nicht nur Dschihadisten in Syrien unterstützten, sondern das Land heute am Wiederaufbau hindern.
Aber an vielen Orten habe ich auch gesehen, wie die Leute praktisch mit nix, mit ihrer Hände Arbeit und den letzten Ersparnissen, ein Geschäft restaurieren, Mitarbeiter anstellen, arbeiten, arbeiten, arbeiten, um wieder auf die Beine zu kommen.
Die Regierung setzt auf die Entwicklung einer Wirtschaft, die auf die eigenen Ressourcen und Kräfte setzt und sich nicht von anderen Staaten abhängig machen soll. Selbstversorgung ist die Devise. Dafür gibt es Unterstützung seitens der Regierung, wenn auch nicht in dem Umfang, wie die Unternehmer, die Bauern, die Bevölkerung sie bräuchten. Im kommenden Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Wir werden sehen, welche Kandidaten dann antreten.