Als im Dezember 1998 ein linksgerichteter ehemaliger Oberst der Fallschirmjäger die Präsidentschaftswahlen in Venezuela gewann, war das der Linken in Europa kaum eine Notiz wert. Im Gegenteil, bei manchen galt der „Putschist“ damals vorwiegend als Militär, und die sind für viele Linke eben indiskutabel.
Wenig Interesse fanden zunächst auch die Veränderungen, die mit dem 47-Gesetze-Paket nach Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 2000 ihren Anfang nahmen. Es dauerte nach dem Regierungswechsel also noch fast dreieinhalb Jahre, bis ein nach drei Tagen am Widerstand des Volkes gescheiterter Staatsstreich gegen den Mann mit Namen Hugo Chávez im April 2002 dazu führte, dass das Land zum Kristallisationspunkt für letztlich alle Arten von Linken wurde – aus Europa und der Welt, aber nicht zuletzt gab es Interesse und Solidarität in den lateinamerikanischen Nachbarländern.
Dazu trug der „Bolivarianismus“, also der Bezug auf Simón Bolívar bei, mit dem Hugo Chávez jedes Mal erfolgreicher für eine integrative Politik in der Region warb. Das in Lateinamerika immer offenkundigere Scheitern des Neoliberalismus als einer
viel Geld in soziale Projekte zu stecken, und tat das auch.
Aber gleichzeitig wurde den Besitzenden nicht genommen,
so laut diese auch wehklagten.
Damit war klar, dass bei abflauendem Ölgeschäft
nicht mehr alle wie zuvor bedient werden könnten.
speziellen Form des Kapitalismus – tatsächlich nach dem Putsch in Chile 1973 auf diesem Kontinent zuerst umgesetzt – schuf von der Jahrtausendwende bis etwa 2008 Bedingungen für weitere Regierungsübernahmen in anderen Ländern Süd- und Mittelamerikas durch Parteien und Politikmodelle, die auf mehr Staat, höhere Kaufkraft und soziale Sicherheit der Unterschichten und zuweilen auch auf eine verbesserte demokratische Teilhabe der Menschen setzten. Häufig wurde der Kapitalismus als Wirtschaftsform – mal mehr, mal weniger deutlich – angeprangert, wenn auch selbst die fortschrittlichste Verfassung der Länder der Region, diejenige Venezuelas, das Privateigentum ausdrücklich schützt. Bei den meisten der am Ende dieser „Linkswende“ siebzehn zählenden Staaten mit einer fortschrittlicheren Regierung als in den neunziger Jahren ging es zudem um eine souveränere Außenpolitik. Das führte zu neuen regionalen Institutionen wie der Südamerikanischen Staatenunion (UNASUR) oder der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), die sich auch in Ablehnung der US-Dominanz in der Region bildeten.
All das führte zu einer Hoffnung bei vielen Menschen, die sich mit der kapitalistischen Realität nicht abfinden mögen. Auch das nach 1990 geschmähte Wort „Sozialismus“ wurde wieder gebräuchlich.
Aber es ist erforderlich die verschiedenen Strategien in den unterschiedlichen Ländern auf ihre Ziele hin zu bewerten. Mit dem Verstehen dieser Strategien werden schnell die Begrenztheiten bei politischen Visionen und Orientierungen deutlich. Dabei geht es gar nicht einmal darum, diese Begrenztheiten zu kritisieren, sondern sich klar darüber zu sein, worüber man redet und was man verteidigt oder unterstützt. Das kann auch ein kluger Reformprozess sein, wenn die Revolution nicht auf der Tagesordnung steht. Denn auch wenn viele nichtmarxistische Linke Europas mindestens für Venezuela immer wieder den angeblichen „Aufbau des Sozialismus“ in Aussicht stellten: keine Regierung hatte und hat sich ernsthaft die Zerstörung des bürgerlichen Staats vorgenommen.
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Nach genauerem Hinschauen bleibt ein heterogenes Bild. Stellte sich Brasiliens „Arbeiterpartei“ unter Präsident Lula da Silva als ein wirklicher Befürworter der Integrationspolitik Lateinamerikas heraus, so blieben die sozialen Verbesserungen auf paternalistische Ansätze beschränkt, wie zum Beispiel das „Null Hunger“-Programm, das akut Millionen begünstigte, aber nicht zu einer nachhaltigen Sicherheit führte. In Argentinien schafften es Néstor Kirchner und seine Ehefrau Cristina Fernández in drei Präsidentschaften seit 2003 das Land international wieder kreditwürdig zu machen; und auch hier wurde die soziale Situation verbessert, aber eine Perspektive für ein anderes Gesellschaftsmodell wurde nicht einmal angedacht. Im Gegenteil bedeutet die Anerkennung der definitiv illegitimen (weil von einer Diktatur aufgehäuften) Auslandsschuld des Landes, dass man über weitere Generationen nicht aus der Misere kommen wird. Uruguay bediente die Wünsche der Menschen- und Bürgerrechtler/innen, aber ist auch in der dritten Präsidentschaft der Frente Amplio vor sozialrevolutionären Maßnahmen zurückgewichen. Nicaraguas Frente Sandinista fehlt angesichts fehlender Ressourcen der Verteilungsspielraum, sie setzt nun auf den gigantischen Pazifik-Karibik-Kanal. In El Salvador hat die rechte Opposition eine parlamentarische Mehrheit, und die FMLN, die die Präsidentschaftswahlen mit nur 6 300 Stimmen Vorsprung gewann, regiert äußerst pragmatisch.
Mehr versprachen die Politikansätze in den ALBA-Staaten, neben Venezuela vor allem in Bolivien. Dort, wie auch in Ecuador, half eine neue Verfassung die Menschen für ihre Interessen zu mobilisieren. Während in Ecuador die Gruppen, die ihre Privilegien zu verlieren fürchteten, gegen die „Bürgerrevolution“ des Präsidenten Rafael Correa Front machten, blieb die Regierung eine politökonomische Antwort auf die lokale Bourgeoisie schuldig und hält zudem das gleiche fatale Rohstoffextraktions- und -exportmodell wie in den Andennachbarstaaten als Maßstab des Wirtschaftswachstums aufrecht. In Bolivien dagegen wurden 2006 tatsächlich Verstaatlichungen im Energiesektor (Erdgas) vorgenommen. Präsident Evo Morales kann sich dabei etwas freier bewegen, weil der erste indigene Präsident Amerikas Wahlen schon allein über die Ethnienfrage gewinnen kann: Bolivien ist das Land Lateinamerikas mit dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung.
Venezuela hatte mit seinem Ölreichtum die Möglichkeit, viel Geld in soziale Projekte zu stecken, und tat das auch. Aber gleichzeitig wurde den Besitzenden nicht genommen, so laut diese auch wehklagten. Damit war klar, dass bei abflauendem Ölgeschäft (unter dann schwierigeren Bedingungen) nicht mehr alle wie zuvor bedient werden könnten. Nach Jahren der wirtschaftlichen Flaute bei immer mehr um sich greifender Unzufriedenheit meldete sich bei den Wahlen Anfang Dezember dann „die schweigende Mehrheit zu Wort“, wie André Scheer im lesenswerten Artikel „Sieg im Wirtschaftskrieg“ („junge Welt“ vom 12. Dezember 2015) treffend analysiert.
Die Chancen zu einer anderen Entwicklung waren aber nicht zuletzt wegen einer irrationalen und uneinigen Besitzendenklasse immer wieder neu gegeben. So hatte Venezuelas Regierung nach dem Wahlboykott der Opposition und einem nahezu hundertprozentig „chavistischen Parlament“ ab 2005 die Möglichkeit, Grundlegendes an den Besitz- und Produktionsverhältnissen zu verändern. Eigenartigerweise geriet aber genau dann der Prozess ins Stocken – manches spricht dafür, dass es eben diese Möglichkeit war, die zur Lähmung beitrug. Unter dem Titel „Wohin steuert Venezuela?“ wurden in der UZ vom 24. September 2004 diverse Aspekte der Bolivarianischen Revolution in Venezuela diskutiert, darunter auch die wichtige Frage des Doppelcharakters von Reform und Revolution. Dazu hieß es: „Wenn auch nach Lenin wirkliche Reformen in der kapitalistischen Gesellschaft Doppelcharakter haben, so sind die selbst errungenen und nicht vom Kapital taktisch zugestandenen Reformen bewusstseinsfördernde (weil Grenzen des Systems aufzeigende) und nicht nur daseinsverbessernde (und so zuweilen systemstützende) Maßnahmen. In Venezuela handelt es sich zweifelsfrei um selbst erkämpfte Reformen, daher im Leninschen Sinne unterstützenswerte. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht die (hier nicht erörterte) Frage, ob die Tatsache, dass diese Reformen in Venezuela mit und nicht gegen eine Regierung durchgesetzt werden, den weiteren Verlauf der Bolivarianischen Revolution positiv oder negativ beeinflussen wird.“ Diese Frage lässt sich heute im Rückblick etwas einfacher beantworten: eine Linksregierung hilft beim Durchsetzen der Forderungen, aber behindert sie gleichzeitig, wenn sie dem aufkommenden Selbstverständnis einer Stellvertreterpolitik von oben nicht entgegensetzt, dass die Interessen einer Klasse nicht nachhaltig und endgültig durchgesetzt werden können, wenn die Klassen nicht perspektivisch aufgehoben werden. Und dafür ist die unterdrückte Klasse eben selbst zuständig.
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Mit der Ausnahme Chiles, das sich in vielerlei Hinsicht von der Wirtschaftsstruktur der anderen lateinamerikanischen Staaten unterscheidet und zudem schon seit 1990 eine gemäßigt linke Koalitionsregierung hatte, die nach dem Sieg der Rechten 2010 vor zwei Jahren zurückkehrte, endete der Linkstrend in Lateinamerika in etwa um 2008. Er begann in dem Maße zu stagnieren, wie sich die Ideen zur gesellschaftlichen Umgestaltung im Geflecht von Pöstchenjägerei, Korruption und Kooptierung genau der gesellschaftlichen Bewegungen, die die fortschrittlichen Prozesse zuvor vorangetrieben hatten, verliefen. Hinzu kam die Krise der Weltwirtschaft 2008/2009, die mit zeitlicher Verzögerung auch bei den Rohstoffexporteuren ankam. Venezuela ist ein Beispiel für das Zusammenspiel von ausgebliebener Umstrukturierung der Exportorientierung, nie wirklich besiegter Inflation, Unstimmigkeiten im Regierungslager und Destabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch künstliche Verknappung des Warenangebots durch die nach wie vor amtierende Handelsbourgeoisie.
Zuweilen gingen seit 2009 bereits in mehreren Staaten regionale oder kommunale Wahlen verloren; dazu auch schon die Präsidentschaftswahlen in Panama. Dennoch gab es in Venezuela, Argentinien, Brasilien, Uruguay oder Ecuador immer noch Siege bei Wahlen, die jedoch deutlich knapper ausfielen als zuvor. Inzwischen gehen die knappen Erfolge in knappe (Argentinien) oder wie jetzt in Venezuela deutliche Niederlagen über. Die Zeit der Stagnation ist vorüber; das Rollback, das 2008 begann, trägt jetzt Früchte. Panama, Honduras, Guatemala, Paraguay waren der Anfang, Venezuela und Argentinien werden nicht das Ende sein.
Insofern kann man kaum überrascht sein von dem, was sich 2015 auch anderenorts in Lateinamerika tat: die chilenische Koalitionsregierung, seit 2014 wieder unter Präsidentin Michelle Bachelet, aber nun mit Beteiligung der Kommunistischen Partei, wackelt nach einem Korruptionsskandal beträchtlich. In Brasilien strengt die Opposition gerade ein Absetzungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff an, und schon 2014 erhoben sich Hunderttausende gegen die Linksregierung und waren vor der Fußball-WM fast mit Rücktrittsforderungen an die Lula-Nachfolgerin erfolgreich. Zu befürchten ist, dass die venezolanische Parlamentsmehrheit zur baldigen Hälfte seiner Amtszeit ein Amtsenthebungsverfahren gegen Nicolás Maduro anstrengt; Vollmachten zum Eingreifen in die Außenpolitik des Landes hat das Parlament zur Genüge.
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Kuba ist als sozialistisches Land in all das einerseits involviert, andererseits davon gewissermaßen unberührt. Denn nach wie vor gilt, dass der Sozialismus auf Kuba nur von innen her zerstört werden kann, wie Fidel Castro 2005 erklärte. Von daher werden sich auf Kuba möglicherweise mittelfristig veränderte Beziehungen zu Venezuela mitsamt ungünstigerer Ölpreise negativ bemerkbar machen, weil man dann mehr Devisen aufbringen muss, die an anderer Stelle fehlen werden. Aber Kubas Zusammenbruch zu befürchten, weil Venezuela eine rechte Regierung bekommen könnte, ist eine reichlich undialektische Annahme, bezieht sie doch in keiner Weise ein, dass Kuba bis 1999 die schwersten Jahre nahezu völlig auf sich allein gestellt überstehen musste. Heute sind viele Bedingungen grundsätzlich besser als um 1999, innenpolitisch wie auch was die vielfältigen Außenbeziehungen angeht. Komplizierter könnten die gleichzeitigen inneren Umgestaltungsprozesse im Land sein – aber da sollte sich die hiesige Solidaritätsbewegung auf die Aussagen der KP verlassen können, wonach der Sozialismus unter allen Umständen erhalten werden soll.