Andrej Holm erörtert mit Friedrich Engels die Politische Ökonomie des Wohnens

Die Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

Martin Küpper

Karl Marx und Friedrich Engels unterschieden zwischen natürlichen und sozialen Bedürfnissen. Zu den ersteren gehört neben Essen und Kleidung auch die Wohnung. Sie zeigten, dass der Mensch der Natur mit Haut und Haar angehört und des gesellschaftlich organisierten Austausches mit und in ihr bedarf, um bestehen zu können. Je nachdem, wie der Mensch sein Verhältnis zur Natur regelt und welchen klimatischen und geografischen Bedingungen er unterliegt, entwickeln sich die natürlichen Bedürfnisse und damit auch die Wohnformen. Dass Dächer stets oben und Türen an der Seite der Innenräume liegen, ist eine kulturelle Konstante. Was sich aber stetig ändert, sind Umfang wie Art und Weise der Befriedigung des Bedürfnisses Wohnen. In welcher Schieflage die Wohnverhältnisse in der BRD sind, zeigt ein Vergleich der Zahl der leer stehenden Wohnungen mit der Zahl der Wohnungslosen. So schätzte das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen 2018 den bundesweiten Leerstand auf 1,7 Millionen Wohnungen. Allein in Berlin lebten 2020 ungefähr 40.000 Wohnungslose und ungefähr 2.000 Menschen ohne Obdach. Wie es im aktuellen Kapitalismus notwendigerweise zu solchen Missverhältnissen kommt und welche Wege dagegen erfolgversprechend sein könnten, ist Gegenstand der Untersuchung des Berliner Sozialwissenschaftlers Andrej Holm.

Analysen Holm RGB 624x1024 1 - Die Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert - Politisches Buch, Wohnen - Hintergrund
Andrej Holm:
Objekt der Rendite – Zur Wohnungsfrage und was Engels noch nicht wissen konnte
Dietz Verlag Berlin 2021, 216 Seiten, 16,00 Euro

Er zeigt, wie Wohnen „eine soziale Existenzbedingung“ darstellt, die mit „unsere(n) Gewohnheiten und alltäglichen Routinen unmittelbar mit den gesellschaftlichen Verhältnissen“ verbunden ist. Da das Wohnen aber eine Ware ist, ist der Wohnungsmarkt „sozial blind“ gegenüber dem Bedarf an Wohnraum, denn die Bereitstellung von Wohnraum ist eng an den Zweck gekoppelt, das eingesetzte Kapital zu vermehren. Mit Engels und seinen Broschüren „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) und „Zur Wohnungsfrage“ (1872/73) erörtert Holm die Entstehung der Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert. Er zeigt, wie Engels diese als Ethnograf, Ökonom und Politiker betrachtete und rekonstruiert hierbei ausführlich dessen Auseinandersetzung mit kleinbürgerlichen Reformideen sowie seine revolutionären Vorstellungen. Das ist nicht nur historisch aufschlussreich, sondern unterstreicht auch die ungebrochene Aktualität von Engels. Diese sei in den „Versuchen einer grundsätzlichen Analyse der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen des Wohnens im Kapitalismus“ begründet.

Dass die bürgerliche Gesellschaft die Probleme nicht beseitigen kann, sondern immer wieder neu setzt, zeigt Holm mit Verweisen auf aktuelle Probleme. So befördert das „Prinzip der Gewinnsteigerung durch Desinvestition“ heute noch Wohnelend, wenn notwendige Sanierungsarbeiten möglichst lange hinausgezögert werden. Auch die viel beschriebene Gentrifizierung ist notwendige Voraussetzung der Logik des „highest and best use“, denn der Boden muss möglichst in seinem Wert gesteigert werden. Dafür gibt es eine Reihe von legalen Möglichkeiten wie die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, Bevorzugung von Luxusgewerbe oder den viel beschworenen Neubau mit dazugehöriger Neuvermietung. Entscheidend ist die Lücke zwischen der momentanen und der zu erwartenden Grundrente: „Je größer die Ertragslücke, desto größer die Investitionsbereitschaft.“

Holm brilliert dort, wo er Historie und aktuelle Problemlagen ausgehend von andauernden strukturellen Gegebenheiten und Machtverhältnissen miteinander verknüpft und zeigt, wie die gegenwärtige Wohnungspolitik zwischen Revanche der Bourgeoisie und reformistischer Flickschusterei eingeklemmt ist, wobei eine revolutionäre Wohnungspolitik auf den „Wartestand“ verbannt wurde. Problematisch werden seine Ausführungen, wenn er einen „radikalen Reformismus“ predigt. So finden wir eine Absage an einen „marxistische(n) Rigorismus“, der heutigen Akteuren nicht helfen würde. Verantwortlich sei hierfür Engels, der die Wohnungsfrage „als eine Art Nebenfolge des Kapitalismus“ gegenüber dem „Hauptwiderspruch“ von Kapital und Arbeit erklärte. Das habeeiner Ansicht Vorschub geleistet, die die Lösung der Wohnungsfrage auf den Kommunismus verschieben würde und somit „zu einer Lähmung von Mobilisierungen“ führen kann, weil alle gesellschaftlichen Widersprüche auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit reduziert würden. Dass Engels gegen sozialistische Kleinbürger geltend macht, dass die Wohnungsfrage nicht die Wurzel der kapitalistischen Produktionsweise ist, heißt nicht, dass er eine Politisierung der Wohnungsfrage abgelehnt hätte, weil sie angeblich „für die Organisierung des Proletariats keine Rolle spielen würde und überflüssig“ sei. Dieses Strohmann-Argument, das durch die unbelegte Behauptung ergänzt wird, dass Marx und Engels „politische Auseinandersetzungen jenseits der Arbeitswelt (…) als Ablenkung von den ‚wirklich wichtigen’ Fragen“ betrachtet hätten, dient dazu, die eigenen nicht sonderlich konkreten Forderungen ins Rampenlicht zu stellen. Es gelte, eine „Transformation des Wohnens“ voranzutreiben. Diese habe drei Komponenten: a) die „Wohnversorgung aus den Marktverhältnissen“ herauslösen, indem eigentumsrechtliche Lösungen gefunden werden, die Gewinnerzielung ausschließen; b) Stärkung der Eigentumskontrolle und -sicherheiten; c) Erhöhung der Kontroll- und Partizipationsmöglichkeiten der Bewohner über die Wohnbedingungen. Aussichtsreiche Kandidaten zur Verwirklichung dieses an sich wünschenswerten Programms sind Holm zufolge Genossenschaften, selbstorganisiertes Bauen und gemeinschaftliches Wohnen, neue Wohnungsgemeinnützigkeit und die sogenannte soziale Infrastruktur. Wie diese Vorschläge, die am Tropf des bürgerlichen Staates hängen und den ökonomischen Konjunkturen unterworfen sind, praktisch verallgemeinert werden sollen, bleibt aber angesichts der hohen Grundstückspreise und vielschichtigen Eigentümerstrukturen dunkel. Oder als Frage formuliert: Wie kann in einer profitorientierten Gesellschaft die anvisierte Ausweitung von Non-Profit-Strukturen ohne gewinnorientierte Finanzierung gestemmt werden?

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert", UZ vom 11. März 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit