Nach über einem Vierteljahrhundert erweisen sich die Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Frieden, die die Zentren des Kapitals den osteuropäischen Völkern gegenüber gemacht haben, als bewusste Irreführung. Der eingeschlagene Weg ist in Wirklichkeit Hindernis für die Entwicklung und Sicherheit der Völker überhaupt.
Es gab sie nicht, die durch die Propaganda versprochene Annäherung des ökonomischen, politischen und kulturellen Niveaus der osteuropäischen Staaten an das der entwickelten kapitalistischen Staaten, sondern im Gegenteil eine allseitige Vertiefung der Kluft.
Die osteuropäischen Staaten befinden sich in der Zwischenzeit alle unter der Knute der imperialistischen Großmächte, die nicht nur ihr ökonomisches und politisches Potenzial, sondern auch die Erfahrungen als Kolonialmächte aktiv einsetzen, um die Profite der Konzerne zu maximieren und politische Herrschaft auszuüben. Der Platz und die Rolle dieser Länder in der EU wird nicht durch ihre Qualität als souveräne Staaten, sondern durch die sich zu ihrem Ungunsten entwickelnden Machtverhältnisse bestimmt.
Eine der negativen Folgen dieser Entwicklung, die nicht nur im nationalstaatlichen Rahmen, sondern auch gesamteuropäisch destabilisierend wirkt – und zugleich wichtiger Indikator für die tatsächliche Lage ist –, ist der dramatische Rückgang der Bevölkerung in den Ländern Ost- und Mitteleuropas.
Eine von der „Financial Times“ veröffentlichte Analyse weist darauf hin, dass es in diesem Raum noch nie einen so starken demographischen Absturz gegeben habe, wie er in den letzten zwei Jahrzehnten zu verzeichnen ist. Die Vereinten Nationen schätzen ein, dass 2015 die Bevölkerungszahl im Osten Europas bei 292 Millionen lag – 18 Millionen weniger als zu Beginn der 1990er Jahre. Das ist mehr als die Bevölkerung der Niederlande, und mehr als die Bevölkerung Ungarns und Tschechiens zusammen. Als Ursachen werden genannt: Migration, sinkende Geburtenrate und zunehmende Sterblichkeit. Es wird allerdings vermieden, auf die sich verschlechternden Lebensbedingungen, die Zuspitzung der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Widersprüche und auf die Verarmung der Region im Stile kolonialer Besitzungen zu verweisen.
Bulgarien und Rumänien verzeichnen eine dramatische Abwanderung. Von 1992 bis 2015 haben drei Millionen Bulgaren – ein Drittel der Bevölkerung – das Land verlassen. Rumänien hatte 1990 eine Bevölkerung von 23 Millionen, gegenwärtig sind es noch 19,9 Millionen. Mehr als ein Drittel der qualifizierten Arbeitskraft sucht Beschäftigung im Ausland.
Eine Studie der dänischen Universität Aarhus stellt fest, dass, seit Rumänien 2007 der EU beigetreten ist, allein 14 000 Ärzte das Land verlassen haben. Neueste Angaben prognostizieren, dass die Einwohnerzahl Rumäniens bis auf 14,5 Millionen zurückgehen wird. Als Ursache wird gesehen, dass vor allem junge Menschen das Land verlassen, um im Ausland Arbeit zu suchen und dort dann auch sesshaft werden.
Ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung, die in ihren Heimatländern verbleibt, ist, um den materiellen Unterhalt für sich und die Familien zu sichern, gezwungen zu diskriminierenden Bedingungen in den ansässigen Betrieben zu arbeiten. Diese befinden sich in der Zwischenzeit ebenfalls im Besitz ausländischer Investoren. Der britische „Guardian“ veröffentlichte eine Untersuchung, in der an Beispielen die Arbeitsbedingungen in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, aber auch der EU-Staaten Polen, Rumänien und der Slowakei aufgeführt sind. Demnach wird z. B. in der Schuhindustrie Albaniens ein Stundenlohn von einem Dollar und in Mazedonien von 86 Cent bezahlt.
Das sind ausgewählte Probleme. Derartige negative Entwicklungen gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft der osteuropäischen Länder. Zu den veränderten Bedingungen für die Gestaltung ihrer Politik in der EU und zur Umsetzung des Konzeptes der EU bzw. ihrer Hauptmächte wie Deutschland gehört eine zunehmende Destabilisierung der inneren Verhältnisse in den osteuropäischen Staaten, eine Differenzierung der Interessen vor allem zwischen den osteuropäischen Staaten und den Hauptmächten der EU sowie eine Verstärkung der Gruppenbildung zur Wahrnehmung der sich widersprechenden Interessen. Die Entwicklung hat eine wachsende Unberechenbarkeit in den Beziehungen in der EU, aber auch im Verhalten der EU und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber Russland zur Folge. Es werden aber auch Chancen für die USA geschaffen, eigene Interessen gegenüber den Staaten in der Region und gegenüber Russland durch die Ausnutzung der Widersprüche zur Geltung zu bringen. Insgesamt recht trübe Aussichten.
Unter diesen Bedingungen betreibt Deutschland intensive Aktivitäten zur Vorbereitung des EU-Gipfels vom 16. September in Bratislava, um seine Interessen und Ziele – trotz wachsender Widersprüche – durchzusetzen. Am 9. September findet in Athen ein Treffen der südlichen EU-Staaten (Frankreich, Malta, Italien, Portugal, Spanien und Zypern) statt, um die „Modalitäten, wie die Mittelmeer-Staaten die europäische Agenda beeinflussen können“ zu diskutieren. Ende Juli hat sich die Visegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien) getroffen, um „gemeinsame Vorschläge in Zusammenhang mit Reformen in der EU“ vorzubereiten.
Andererseits hat sich Bundeskanzlerin Merkel mit dem italienischen Ministerpräsidenten und dem französischen Präsidenten (22. August) getroffen. Es folgten Gespräche in Estland, Tschechien und Polen, wo sie an an einem neuen Treffen der Visegrad-Gruppe teilgenommen hat. Danach gab es ein Treffen mit den Regierungschefs von Österreich, Bulgarien, Kroatien und Slowenien.
Die Bedeutung, die dem EU-Gipfel vom 16. September beigemessen wird, wird daraus sehr deutlich. Von seinen Ergebnissen wird so oder so viel für die Zukunft der EU und auch für die deutsche Außenpolitik abhängen.