Der Kartenverkauf für ein besonderes Ereignis in der Berliner Philharmonie ist in vollem Gang – die original besetzte Wiederaufführung von Hanns Eislers/Bertolt Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ am 8. April. Quer durch die Stadt werden die bisher vernetzten Chorproben zusammengeführt, stehen aber immer noch für geübte Späteinsteiger zum Mittun offen. Die Gestalt annehmende Urbesetzung mit 300 Laienchorsängern, Eisler-Orchester, Sprechern und einem ausgebildeten Sänger im Ambiente der heutigen Philharmonie – anstelle des im Krieg zerstörten gleichnamigen Uraufführungsbaus in der Bernburger Straße von 1930 – wird nur in einer einzigen Aufführung zu erleben sein.
Bei hoher Saalmiete und Verzicht auf staatliche Mittel ist die ausdrückliche finanzielle Unterstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine reale Grundlage. Sie muss aber durch Normalpreise á 25 bzw. 35 Euro sowie zusätzlich dringend erbetene weitere Spenden abgesichert werden. Zehn teils politisch engagierte Chöre sowie darstellende Initiativen gesellschaftlich ausgegrenzter Menschen sollen im ersten meisterhaften „Versuch“ der Brechtschen Lehrstück-Methode auch zu grenzüberschreitenden praktischen Einsichten in die eigenen Lebensverhältnisse geführt werden, um „nach einer besseren Möglichkeit zu fragen“.
Wer sind die Stimmen der „Maßnahme“ von heute, im Jahr 2016? Das szenisch-künstlerische Inszenierungsteam (Fabiane Kemmann/Barbara Nicolier) will die von Eisler und Brecht zu ihrem Endpunkt, dem Tod, geführte Parabel entlang der Figur des „jungen Genossen“ bis heute, seine Wiederkehr in diese Welt imperialistischer Unterdrückung und Kriege fassen. Aus künstlerischem Experimentieren könnte sich die diskussionswürdige Frage der unmittelbar Beteiligten nach „Widerstand, Ich-Stärke und kollektivem Handeln“ herauslösen.
Der musikalische Leiter Markus Crome dirigierte 1997 am Berliner Ensemble einen Berufschor zur ersten offiziellen deutschen Wiederaufführung von „Die Maßnahme“ nach dem Autorenverbot von 1956. 2008 arbeitete er bei der Inszenierung an der Volksbühne mit dem jetzt wiederverwendeten Orchester sowie mit Amateurchören, denen sich damals wie heute singende Angehörige aus Theater-Werkstätten und Verwaltung anschlossen.
Um die Diskussion zu befördern, wird mit einem dokumentarischen Foto an die über 30 Opfer des „Berliner Blutmai“ von 1929 erinnert. Aus dem Fenster seiner nahegelegenen und heftig diskutierenden Berliner Autorenwerkstatt wurde Brecht unmittelbarer Augenzeuge der Geschehnisse dreier Tage im Gefolge des Verbots friedlicher Mai-Demonstrationen der KPD. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel trug die Verantwortung für das blindwütige Schießen von 13000 Polizisten in die Menge. Der Rote Frontkämpferbund (RFB) rief zur Verteidigung der Straße. Am Ende gab es 33 Tote, 200 Verletzte und 1200 Verhaftungen unter den kommunistischen Arbeitern. Der RFB wurde verboten. Ein gemeinsames, machtvolles Handeln der beiden deutschen Arbeiterparteien gegen politisch geduldete SA-Überfälle und den heraufziehenden Faschismus kam nicht mehr zustande.
Eislers und Brechts Vorschläge für die Form illegaler Parteiarbeit hatten Arbeitersänger aus beiden Parteien zur mitternächtlichen Uraufführung 1930 gemeinsam vorgetragen. Vor 1933 gab es in Deutschland eine halbe Million Arbeitersänger. Nach 1945 war diese Bewegung vernichtet.