Ungewöhnliches passiert in unserem Land. Der Staat setzt Eingriffe in das tägliche Leben durch, die in der Verfassung verankerte „Schuldenbremse“ wird ausgesetzt, für die großen Unternehmen wird ein „Rettungsschirm“ von unvorstellbaren 600 Milliarden Euro aufgespannt, über eine Verstaatlichung von Monopolen wird für den Notfall nachgedacht, (Wieder-)Verstaatlichung der Krankenhäuser wird eh schon lauthals gefordert.
Nicht ungewöhnlich in Kriegszeiten, und in einer solchen sehen sich einige transatlantische Führungsfiguren.
Während des Ersten Weltkriegs wurde im Deutschen Kaiserreich die Wirtschaft auf eine zentrale Planung umgestellt, zur Organisation einer auf den Krieg ausgerichteten Produktion, der Rationierung von Lebensmitteln und dem Einzug von Arbeitern als Soldaten. Finanziert wurde diese Kriegswirtschaft durch Staatsschulden, wie in anderen Ländern auch. Der Staat hat die Macht, Geld zu drucken. Krisen entzaubern den Waren- beziehungsweise Geldfetischismus. Dieser macht glauben, das, was gesellschaftliche Arbeit in Gang setzt, sei an die Geldzeichen gebunden. So gigantisch die Geldmengen auch sind, die die Finanzmärkte umwälzen, die wirklichen Beschränkungen sind materieller Art: die wirklichen Ressourcen und die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte – wie jetzt im Gesundheitswesen und anderen Bereichen der Daseinsfürsorge schmerzlich deutlich wird.
Die auch „Kriegssozialismus“ genannte Wirtschaftspolitik während des Ersten Weltkriegs beeindruckte insbesondere Lenin, und der zog seine Schlüsse daraus: „Deshalb ist das, was die deutschen Plechanow (Scheidemann, Lensch u. a.) ‚Kriegssozialismus‘ nennen, in Wirklichkeit staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus. (…) Nun versuche man einmal, an Stelle des junkerlich-kapitalistischen (…) den revolutionär-demokratischen Staat zu setzen, der sich nicht davor fürchtet, auf revolutionärem Wege den Demokratismus voll und ganz zu verwirklichen. Man wird sehen, dass der staatsmonopolistische Kapitalismus in einem wirklich revolutionär-demokratischen Staate unweigerlich, unvermeidlich einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin bedeutet!“ („Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, 1917)
Auch wenn wir in der BRD heutzutage nicht die Situation vom September 1917 in Russland haben, sollte doch diese Dialektik mit bedacht werden, statt nur die Gelegenheit der herrschenden Klasse zu einer autoritären Umgestaltung des Landes zu beschwören. Diese zu Recht angeführte Gefahr wird nicht geringer, wenn wir nicht die sich aus der Krise ergebenden Notwendigkeiten vor Augen führen: Nicht nur die Unfähigkeit der herrschenden Klasse anzuprangern, sondern auf die Notwendigkeit einer Planung von Produktion und Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit zu pochen. Planwirtschaft auf der Basis des Gemeineigentums ist angesagt.
Die Auffassung, „Corona“ sei ein Großangriff der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse – nicht zu verwechseln mit der Aussage, sie wälze die Krisenlasten nach unten ab –, ist nicht nur falsch, sondern auch kontraproduktiv für unseren Kampf. Sie unterstellt eine Allmacht des Kapitals, die es nicht hat. Der Einbruch der Produktion und die Absage von „Defender Europe 20“ sind keine besonders raffinierten Herrschaftstricks. Die herrschende Klasse selbst ist durchaus verunsichert, die Bevölkerung traut ihr in der Krise nicht (Hamsterkäufe) und merkt, dass ihre Regierung zwar den Mund voll nimmt, aber planlos handelt. Sie gerät ideologisch in die Defensive, wie an der Beschwörung der „Marktwirtschaft“ und den Warnungen vorm „totalen Staat“ zu erkennen ist. Hier liegt zurzeit die vielleicht wichtigste Bruchstelle im Herrschaftsgefüge, die es im antimonopolistischen Kampf auszunutzen gilt. Ein Kampf, der im nationalstaatlichen Rahmen zu führen ist. Auch dies eine Lehre der Krise: Das Gerede von der Bedeutungslosigkeit der Nationalstaaten dürfte, nachdem diese sich – wenngleich mit dem Mal ihrer herrschenden Klassen – in aller Deutlichkeit gezeigt haben, wohl endgültig vom Tisch sein.