Mao prägte die ersten Jahre der KPCh und der Volksrepublik wie kein anderer

Die Wahrheit in den Tatsachen suchen

Hannes Fellner

Mao Zedong wurde am 26. Dezember 1893 in Shaoshan in der zentralchinesischen Provinz Hunan geboren. Er entstammte einer relativ wohlhabenden Bauernfamilie und genoss eine vergleichsweise gute Schulbildung.

Die Zeit seiner Kindheit und Jugend war eine stürmische. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war das kaiserliche China eine Weltmacht. Eine Konstellation von Widersprüchen führte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Abstieg Chinas als weltgeschichtlicher Akteur. Die gewohnten Produktionsmethoden der Landwirtschaft reichten nicht mehr aus, um der riesigen Bevölkerung des Reiches einen Lebensstandard entsprechend dem Existenzminimum zu garantieren. Der aggressive Kolonialismus westlicher Länder hatte sich wichtige chinesische Tributstaaten unterworfen und Handelspartner einverleibt. Die traditionellen gesellschaftlichen Institutionen verloren zusehends an Integrationskraft. Die Spannungen zwischen unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft sowie zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen – insbesondere zwischen der Han-Bevölkerungsmehrheit und der zwar sinisierten, aber mehr und mehr als fremd empfundenen mandschurischen Elite der Qing-Dynastie – nahmen zu.

Beginn der Demütigung

Mit den Opiumkriegen (1840 bis 1842 und 1856 bis 1860) erzwangen Britannien und Frankreich gewaltsam den westlichen Zugang zu Chinas Märkten. Die Reparationszahlungen an die europäischen Mächte wurden von der Qing-Dynastie der Bevölkerung aufgebürdet, was mit zum Taiping-Aufstand (1851 bis 1864) beitrug – einem verheerenden, entlang sozioökonomischer, religiöser und ethnischer Linien ausgetragenen Bürgerkrieg, dem zig Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die innere und äußere Schwächung begünstigte eine Reihe ungleicher Verträge, die für China gegenüber westlichen (Britannien, Frankreich, Deutschland, USA) wie Nachbarstaaten (Russland, Japan) Gebietsverluste und vielfältige Souveränitätsbeschränkungen in Politik und Verwaltung zur Folge hatten. Dazu kamen in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts massive Umweltkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen, die zu schrecklichen Hungersnöten führten und das Staatsversagen weiter offenbarten.

Reformversuche im Kaiserreich …

Kurz vor der Jahrhundertwende versuchte der kaiserliche Hof, angetrieben von fortschrittlichen Beamten, Reformen nach dem Vorbild der japanischen Meiji-Restauration voranzutreiben. In deren Rahmen wurde Japan durch Umgestaltung seiner ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen unter Aufnahme westlicher Vorbilder innerhalb zweier Jahrzehnte zu einer mächtigen Industrienation umgestaltet.

Die chinesischen Reformen richteten sich in ihrem Kern gegen den bürokratischen, konservativ-konfuzianischen Beamtenapparat und strebten eine Erneuerung politischer und institutioneller Strukturen sowie des Militär- und Bildungswesens an. Zwar kamen die Bemühungen zu spät und ihre ersten radikalen Versuche wurden nach nur 100 Tagen von konservativen Beamtenkreisen und Cixi – der Kaiserinwitwe und Tante des dann unter Hausarrest gestellten Kaisers Guangxu – beendet, doch setzten sie eine Dynamik von Reformen und eine breite gesellschaftliche Diskussion in Gang.

… und Aufstände

In dieser Zeit führte das immer gewaltsamere und rücksichtslosere Vorgehen der imperialistischen Mächte zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen, ihre christliche Missionarstätigkeit und die allgemeine Misere vor allem in den nördlichen Landesteilen zu einer antikolonialen Massenbewegung. Deren Kern speiste sich aus Bünden, Gilden und Selbstverteidigungsgruppen, den „Boxern“, die aufgrund schwindender staatlicher Autorität und geschickter, dem Volksglauben Rechnung tragender Agitation in großen Teilen des Landes lokale Autorität hatten. Zwischen 1899 und 1901 kam es zum Boxeraufstand, in dessen Zuge kolonialer Besitz und ausländische Institutionen angegriffen wurden, das Gesandtschaftsviertel in Peking wurde belagert. Die kaiserliche Regierung war hinsichtlich der Bewegung gespalten. Schließlich unterstützte sie den Aufstand, zumal seine Protagonisten der Qing-Dynastie gegenüber positiv eingestellt waren. Der Boxeraufstand wurde durch eine Acht-Nationen-Allianz aus US-amerikanischen, österreichisch-ungarischen, britischen, französischen, deutschen, italienischen, japanischen und russischen Truppen niedergeschlagen – und einmal mehr wurden China Reparationen und weitere ungleiche Verträge aufgezwungen.

Zwar wurden vom Qing-Hof weitere Reformen umgesetzt, aber es gelang ihm nicht, der ökonomischen und sozialen Verwerfungen Herr zu werden. Fortschrittliche Kreise in Beamtenschaft, Militär und unter den chinesischen Intellektuellen im In- und Ausland sahen zunehmend das imperial-feudale System, das traditionelle konservative Wertesystem und die koloniale Abhängigkeit als Hindernisse für eine positive Entwicklung und die Souveränität Chinas. Über Auslands- und Exilchinesen verbreiteten sich Reform- und Revolutionsideen aus aller Welt; zur Unterstützung von Aufständen in China wurde Geld gesammelt. Zu den über die Zeit einflussreichsten Intellektuellen und Organisatoren dieser Periode zählen Liang Qichao (1873 bis 1929) und Sun Yat-sen (1866 bis 1925).

Aus einem lokalen militärischen Aufstand in Wuchang (Stadtteil des heutigen Wuhan) am 10. Oktober 1911 wurde ein Lauffeuer. Im ganzen Land kam es zu Erhebungen. Mehrere Provinzen sagten sich von der Qing-Dynastie los. Am 1. Januar 1912 wurde die Republik ausgerufen mit Sun Yat-sen als provisorischem Präsidenten.

Die junge Republik

In dieser Zeit wurde Mao politisiert, beteiligte sich aktiv in den Reihen der Rebellenarmee und las die Schriften progressiver chinesischer Kräfte sowie westliche Philosophie. Durch Yang Changji gelangte er in das Umfeld der Zeitschrift „Neue Jugend“. Das von Chen Duxiu, einem Dekan der Universität Peking, herausgegebene revolutionäre Organ war ein Kristallisationspunkt des Marxismus in China. Über diesen Kreis wurde Mao Assistent des Bibliothekars der Universität Peking, Li Dazhao.

Der jungen chinesischen Republik gelang es nicht, in der gebotenen Schnelligkeit Institutionen zu schaffen, um die notwendigen sozioökonomischen Veränderungen umzusetzen, den zentrifugalen Kräften Einhalt zu gebieten und den imperialistischen Mächten Entscheidendes entgegenzusetzen. Den republikanischen Kräften mangelte es zur Umsetzung ihrer Ziele an einer breiten und zuverlässigen sozialen Verankerung und ideologischer Geschlossenheit. Auf die Republik folgte eine Militärdiktatur, auf diese der De-facto-Zerfall Chinas in Einflusssphären lokaler Kriegsherren und imperialistischer Mächte, allen voran Japan.

Obwohl China auf der Seite der Alliierten im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, wurde es in der Nachkriegsordnung weiter benachteiligt. Als Reaktion formierte sich 1919 die zunächst von Studierenden getragene „Bewegung des 4. Mai“ als Massenbewegung, aus der sich in weiterer Folge sowohl die Kommunistische als auch die Nationalistische Partei (Kuomintang) speisten. Dies und die Unterstützung der jungen Sowjetunion für beide Parteien führten zu einer vorübergehenden relativen Stabilisierung Chinas in den 1920er Jahren. 1921 wurde die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in Shanghai gegründet und Mao war einer der Delegierten des Gründungsparteitags.

Die Kommunistische Partei entsteht

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Im April 1927 werden Kommunisten verhaftet. (Foto: public domain)

Die ersten Jahre nach der Gründung der KPCh waren geprägt vom Kampf gegen Warlords und imperialistische Interventionen sowie vom Ringen um die Suche nach einer Linie, welche sowohl den Erfahrungen der kommunistischen Weltbewegung als auch den nationalen Verhältnissen Rechnung trug. Beispielsweise wurden die Rückständigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Klassenstruktur in China durch die Komintern lange Zeit falsch eingeschätzt, wodurch sektiererische und voluntaristische Tendenzen in der chinesischen kommunistischen Bewegung unterstützt wurden. Ohne die materiellen, ideellen und bündnispolitischen Grundlagen zu beachten, hofften die Kommunisten den Sozialismus in Sprüngen errichten zu können. Der Bruch des Bündnisses von KPCh und der bürgerlichen Kuomintang 1927, der von reaktionären Kreisen innerhalb der letzteren betrieben wurde, verstärkte diese Tendenzen, ebenso wie die Erfahrungen des Bürgerkriegs.

Die Aggression des japanischen Faschismus führte die KPCh und die Kuomintang 1936 wieder zusammen. Hinzu kam die selbstkritische Neuorientierung der Kommunisten infolge der Beschlüsse des VII. Weltkongresses der Komintern.

Die „Neue Demokratie“

Mit den um die Jahreswende 1939/40 von Mao verfassten Schriften „Die chinesische Revolution und die KP Chinas“ und „Über die neue Demokratie“ wurde die entscheidende Grundlage für eine eigenständige, an die historischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse Chinas angepasste kommunistische Politik gelegt, die sich von den sowjetischen Vorgaben emanzipierte. Diese berücksichtigte insbesondere Chinas Charakter als abhängiges Land und beinhaltete damit allgemeine und auch heute noch nützliche Einsichten.

Die siegreich aus dem nationalen Befreiungskampf und dem Bürgerkrieg hervorgegangene KPCh stand vor der Aufgabe, ein ökonomisch und sozial spätmittelalterlich und halbkolonial geprägtes Riesenland mit mehr als einer halben Milliarde Einwohner in die Moderne zu führen und ihm seine territoriale Integrität und nationale Würde zurückzugeben – dies alles unter dem politisch-militärischen Druck und Embargo der imperialistischen Länder in Zeiten des aufflammenden Kalten Krieges und der sich abzeichnenden nationalen Widersprüche innerhalb des sozialistischen Lagers.

Mao zog damit entscheidende Schlussfolgerungen, die sich aus dem Gesetz der „Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung der kapitalistischen Länder“ im Imperialismus ergaben, mit dem so gut wie alle sozialistischen Revolutionen konfrontiert waren. Das Gesetz bedeutet, dass es an der Peripherie des imperialistischen Weltsystems zu einer Akkumulation und Verknüpfung verschiedener Widersprüche kommt. Dies führt dazu, dass die schwächsten Kettenglieder brechen – also in sozioökonomisch weniger entwickelten beziehungsweise von den imperialistischen Zentren (neo)kolonial abhängigen Ländern aus unterschiedlichen Gründen politische Bedingungen reifen, die zu Umstürzen und Revolutionen führen und damit sozialistische Wege eröffnen können. In diesen Ländern kommt es aufgrund der Abhängigkeit von den imperialistischen Kernländern und der damit einhergehenden mannigfaltigen Widerspruchskonstellation insbesondere zur Verbindung von Klassenkämpfen und dem Kampf um nationale Befreiung und souveräne Entwicklungsmöglichkeiten.

Periphere oder (neo)kolonial abhängige Länder haben nach erfolgreichen Revolutionen meist mit ähnlichen Problemen zu ringen, die sich aus der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung ergeben: ökonomische Unterentwicklung und wissenschaftlich-technischer Rückstand sowie eine nur schwach beziehungsweise nicht entwickelte bürgerliche Gesellschaft und Zivilgesellschaft („società civile“). Ebenso wenig ausgebildet ist die politische Gesellschaft, also der Bereich der Staatstätigkeit („società politica“) im Sinne Antonio Gramscis. Die nationale Einheit und Souveränität ist durch äußere und innere Bedrohung ständig gefährdet, dadurch spitzen sich die Widersprüche zu und der Klassenkampf verschärft sich. Dies erfordert die Entwicklung der Produktivkräfte sowie den Auf- und Ausbau der ökonomischen und staatlich-politischen Apparate und zivilgesellschaftlichen und soziokulturellen Sphären durch die revolutionären Bewegungen und Parteien. Maos Konzept der „Neuen Demokratie“ steht also für eine Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Die junge Volksrepublik

In den ersten Jahren nach der Gründung der Volksrepublik 1949 folgte die Partei der „neudemokratischen“ Orientierung, dem auf den konkreten nationalen Bedingungen fußenden Aufbau einer neuen Gesellschaft – beruhend auf der volksdemokratischen Einheitsfront, die aus der Arbeiter- und Bauernklasse, der Kleinbourgeoisie, der nationalen Bourgeoisie und anderen patriotisch-demokratischen Kräften bestand. In diese erfolgreiche Periode fallen die Überwindung der Zerstörungen und sozialen Verwerfungen der Kriegs- und Bürgerkriegsjahre, eine umfassende Landreform, beschleunigtes ökonomisches Wachstum, die Etablierung eines breiten Bildungssystems und die demokratische Festigung der Staats- und Volksmacht.

Bereits Anfang der 1950er Jahre war es innerhalb der KPCh aber zu unterschiedlichen Auffassungen über den Weg zum Aufbau der neuen Gesellschaft gekommen, weil es in der Arbeiterbewegung im Grunde keine Erfahrungen für die Modernisierung eines Landes mit den chinesischen Charakteristika gab. Es kam zu einer breiten und kontroversen Diskussion in der Partei. Es gab zwei Hauptlinien in der Partei – hier werden die Parallelen zu den Diskussionen der Bolschewiki Mitte der 1920er Jahre sichtbar. Die eine Linie, repräsentiert von Liu ­Shaoqi, orientierte auf eine relativ eigenständige und längere Phase der „Neuen Demokratie“ zur Entwicklung der Produktivkräfte mit anschließendem Aufbau des Sozialismus. Die andere Linie, repräsentiert von Mao, orientierte auf eine rasche Umgestaltung in Richtung Sozialismus.

Mit dem ersten Fünfjahresplan von 1953 verfolgte die KPCh entsprechend dem damals einzigen Modell Sowjetunion und mit deren Unterstützung die Linie Maos. Diese schien durch die schnellen und enormen Erfolge, die erzielt werden konnten, gerechtfertigt. Mit den raschen Veränderungen in der Frühzeit der Volksrepublik ging das Aufbrechen alter und neuer Widersprüche einher – zwischen Stadt und Land, zwischen den Klassen, zwischen Parteikadern und einfacher Bevölkerung, zwischen der Begeisterung des Aufbaus und der relativen Trägheit der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen im Land. Auf diese wirkten auch äußere Faktoren wie der Koreakrieg, die erste Taiwankrise, die Konterrevolution und ihre Niederschlagung in Ungarn und der unwissenschaftliche und personalisierte Umgang mit der eigenen Geschichte auf dem XX. Parteitag der KPdSU.

Aufbrechende Widersprüche …

Mit der „Hundert-Blumen-Kampagne“ 1956/57 forderte die KPCh die Bevölkerung – nicht zuletzt auch Intellektuelle – auf, sich öffentlich kritisch mit der bisherigen Entwicklung der Volksrepublik auseinanderzusetzen. Die Widersprüche des Aufbaus entluden sich in weit größerer und heftigerer Kritik, als es die Partei vorausgesehen hatte. Die Kampagne führte nicht nur zu berechtigter Kritik, sondern wurde auch von antisozialistischen Kräften ausgenutzt. Die Folge waren der Abbruch der Kampagne und die Verschärfung des Klassenkampfs gegen wirkliche und vermeintliche „rechte Elemente“. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf Diskussionen über den Kurs der KPCh.

Hatte der VIII. Parteitag der KPCh 1956 richtig festgehalten, dass der Hauptwiderspruch in der VR China zwischen dem fortschrittlichen sozialistischen System und den rückständigen gesellschaftlichen Produktivkräften bestehe, nahmen Mao und sein Umfeld die Position ein, dass der Hauptwiderspruch der zwischen Sozialismus und Kapitalismus sei. Im Windschatten der Kampagne gegen „rechte Elemente“ implementierte die Partei Maos Sicht mit der Politik der „drei roten Banner“, des „Großen Sprungs nach vorn“, der „Volkskommune“ und der Generallinie der schnellen Errichtung des Sozialismus unter „Anspannung aller Kräfte“.

Die Politik der „drei roten Banner“ war auf Klassenkampf und Massenmobilisierung zum forcierten Aufbau des Sozialismus ausgerichtet und sah die rasche eigenständige Entwicklung der Volksrepublik zur Industrie- und Militärmacht vor. Dies sollte durch den verstärkten Ausbau der Schwerindustrie, die totale Verstaatlichung des Eigentums und die Kollektivierung der Landwirtschaft erfolgen. Ziel war es, innerhalb kurzer Zeit die entwickelten Industrienationen einzuholen, die Übergangsperiode zum Kommunismus deutlich zu verkürzen und militärisch für einen großen Krieg gerüstet zu sein.

Die Linie der „drei roten Banner“ wurde durch innere und äußere Umstände beeinflusst und begünstigt. Auf der einen Seite sah sich die VR China von den imperialistischen Mächten mit Krieg bedroht und fürchtete nicht ganz zu Unrecht, dass der Sowjetunion die eigenen nationalen Interessen wichtiger waren als die ökonomische und politische Unterstützung der Volksrepublik. Auf der anderen Seite führten die ersten Erfolge in der Umwälzung der Verhältnisse im Land innerhalb und außerhalb der Partei zu einer Aufbaueuphorie. Diese begünstigte zusammen mit anderen Errungenschaften und Siegen des sozialistischen Lagers den weltweiten antiimperialistischen und antikolonialen Kampf genauso wie sie durch diesen weiter angespornt wurde.

… und unrealistische Erwartungen

Der die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und den Entwicklungsstand der Produktivkräfte missachtende Voluntarismus der Gruppe um Mao – zu welcher zu dieser Zeit auch der zum Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses aufgestiegene Liu Shaoqi zählte – hatte katastrophale Konsequenzen für die chinesische Gesellschaft. Obwohl die „kriegskommunistische“ Politik der „drei roten Banner“ zunächst Erfolge in den Bereichen Infrastruktur, staatliche Bautätigkeit und Landwirtschaft verbuchen konnte, wendete sich das Blatt schnell. Rigide Bürokratie bei gleichzeitigem Mangel an strikter Kontrolle, unrealistische Erwartungen und Planvorgaben, verschleierte Misswirtschaft und Korruption, das Ignorieren von Experten zugunsten von politisch motivierten Laien sowie fragwürdige Maßnahmen wie die Einführung der „Hinterhof-Hochöfen“ ließen die Produktion auf fast allen Ebenen einbrechen. Das erste Mal seit der Gründung der Volksrepublik kam es zu einem Ernterückgang, der, verstärkt durch Dürre- und Flutkatastrophen, zu schweren Hungersnöten führte.

Als sich das Scheitern insbesondere des „Großen Sprungs nach vorn“ abzuzeichnen begann, wurde auch die Kritik an Mao innerhalb der Partei lauter. 1959 trat er von seinem Posten als Staatschef zurück, blieb aber als idolisierter Staatsgründer und respektierter Ideologe Vorsitzender der KPCh. Als Staatschef folgte ihm Liu Shaoqi, der inzwischen wieder eine moderatere Position eingenommen hatte. Mit ihm unternahm die Partei erste Schritte, um ihre Politik zu korrigieren. Maos schärfster Kritiker in der Partei, Verteidigungsminister Peng Dehuai, wurde allerdings durch Lin Biao ersetzt – beide waren Revolutions- und Kriegshelden. Der „Große Sprung“ wurde schließlich im zweiten Halbjahr 1960 beendet und die Partei beschloss Gegenmaßnahmen zur Bekämpfung seiner negativen Auswirkungen, die an die Tradition der „Neuen Demokratie“ anknüpften.

Die chinesische Gesellschaft war in einer Krise, die durch innere und äußere Faktoren verschärft wurde. Im Inneren führten das Scheitern der Politik der „drei roten Banner“, das Zurückrudern der Partei sowie Korruption und Willkür unter den Parteikadern auf allen Ebenen zu verstärkten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Außenpolitisch vertiefte sich der Widerspruch im sozialistischen Lager aufgrund des chinesisch-indischen Grenzkonflikts, in welchem die Sowjet-union in Hinblick auf einen Ausgleich mit den USA aus strategischen Gründen de facto eine proindische Haltung einnahm. Der Beginn des endgültigen Bruchs zwischen der Sowjetunion und der VR China war der Abzug von mehreren tausend sowjetischen Technikern und Spezialisten im Jahr 1960.

Erholung und Bruch

Dennoch begann die Ökonomie sich Anfang der 1960er Jahre wieder zu erholen. Gleichzeitig initiierten Mao und seine Getreuen eine ideologische Kampagne gegen wirklichen und vermeintlichen Revisionismus im Inneren wie im Äußeren. Außenpolitisch besiegelte dies den Bruch mit der Sowjetunion, innenpolitisch spitzten sich die Richtungskämpfe in der Partei erneut zu. Mit seiner Politik traf Parteichef Mao auf den Widerstand des Staatschefs Liu Shaoqi und des Generalsekretärs Deng Xiaoping, während Premier Zhou Enlai eine vermittelnde Position einzunehmen versuchte.

Unterstützung bekam Mao vom Verteidigungsminister Lin Biao, dessen Ansehen in Partei und Gesellschaft durch die Zündung der ersten chinesischen Atombombe 1964 gewachsen war. Dieser war es auch, der 1964 das „Kleine Rote Buch“, die „Worte des Vorsitzenden Mao Zedong“, zusammengestellt und herausgegeben hatte, das zunächst der politischen Schulung der Soldaten der Volksbefreiungsarmee diente.

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Das Einbringen der Ernte erfordert 1970 noch sehr viel Arbeitskraft. (Foto: public domain)

Beeinflusst von den Ereignissen in der Sowjetunion und dem Massenmord an den fortschrittlichen Kräften in Indonesien infolge des Putsches Suhartos richtete sich die Kritik Maos und seiner Anhänger Mitte der 1960er Jahre immer mehr gegen die Partei selbst, der sie vorwarfen, den Klassenkampf aufzugeben. Einzelnen Führungsmitgliedern unterstellte Mao, dass sie den Weg der Sowjetunion in Richtung Aussöhnung mit dem beziehungsweise der Wiederherstellung des Kapitalismus eingeschlagen hätten. Diese Positionen fanden einen gewissen Widerhall in der Bevölkerung und auf den niedrigeren Parteiebenen, da die im Gange befindlichen markt- und leistungsorientierten Wirtschaftsreformen die Entstehung einer neuen Schicht von wohlhabenden Bauern, mächtigen Wirtschaftsleitern und korrupten lokalen Parteikadern begünstigte. In den Führungsgremien der Partei fehlte Mao aber noch die Mehrheit, doch er verstand es, Teile der Gesellschaft, die Armee und die unteren Parteiebenen gegen die Kader zu mobilisieren. Vom Staatsapparat kaltgestellt und ohne reale Machtbasis in der Hauptstadt, verlagerte er seine Tätigkeit nach Shanghai, der damals zweitgrößten Stadt der Volksrepublik. Hier schlossen sich ihm lokale Kader und Persönlichkeiten an und entfalteten mit ihm eine rege publizistische und propagandistische Tätigkeit gegen zentrale Repräsentanten der Partei.

Kulturrevolution

In der durch die vorangegangenen Ereignisse aufgeheizten und unsicheren Atmosphäre fand am 16. Mai 1966 eine erweiterte Tagung des Politbüros statt, die Mao orchestriert hatte, ohne dann selbst anwesend zu sein. Die zwei auf dieser Tagung gefassten Beschlüsse „Mitteilungen vom 16. Mai“ und „Beschluss über die große proletarische Kulturrevolution“ markieren den Beginn der Kulturrevolution und bedeuteten die Entmachtung des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees der KPCh. Zweifellos ängstlich, sich der Autorität des Staatsgründers und seiner Getreuen entgegenzustellen, verhielten sich Maos Gegner passiv, verwirrt und verunsichert, was dem Bestreben der Kulturrevolutionäre in die Hände spielte. Eine bedeutende machtpolitische Rolle kam jetzt der „Gruppe für die Kulturrevolution beim ZK“ zu, die von Maos Sekretär Chen Boda geführt wurde und welcher unter anderem seine Frau Jiang Qing angehörte.

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In der Periode des „Großen Sprungs“ wurde versucht, die Eisenproduktion mit „Hinterhof-Hochöfen“ voranzutreiben. Provinz Henan 1958 (Foto: public domain)

Die Kulturrevolution steht gleichzeitig für idealistischen Voluntarismus und diktatorische Maßnahmen von Teilen der KPCh, aber auch für eine partizipative und demokratische Massenbewegung. Sie steht gleichzeitig für gesellschaftliches Chaos und Not, aber auch für ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritt – und sie steht zugleich für die Besinnung der VR China nach innen und ihre internationale Isolation nach dem Bruch mit der Sowjetunion, aber auch für den Beginn ihres Aufstiegs zur Weltmacht.

In der Aufarbeitung dieser widersprüchlichen Phasen wurde durch die KPCh die Delegitimierung der revolutionären Macht vermieden, wie das beim XX. Parteitag der KPdSU der Fall war. Die systematischen Probleme, Ungewissheiten, Widersprüche und Rückschläge im Zuge des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft wurden von der KPCh nicht personalisiert und auf einen Sündenbock abgeschoben und auf eine „Unheilsfigur“ projiziert. So wurden Entlastungsstrategien vermieden, die spätere Fehlentwicklungen einer früheren Ursache aufbürden und in ihrer Konsequenz, wie man am Beispiel der Sowjetunion gesehen hat, der Propaganda des Gegners in die Hände spielen. Doch viel wichtiger ist die Tatsache, dass die Herangehensweise der KPCh eine wirkliche Debatte über die Bedingungen und Charakteristika des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft möglich hat werden lassen, die heute weltweit dringender denn je gebraucht wird.

Rückkehr zur „Neuen Demokratie“

Mit der unter Deng Xiaoping nach der Kulturrevolution eingeschlagenen Politik der „Reform und Öffnung“ orientierte sich die KPCh wieder an Maos „Neuer Demokratie“ und kehrte damit endgültig zu einer den eigenen historischen und nationalen Bedingungen langfristig Rechnung tragenden und die enormen Widersprüche der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft reflektierenden Herangehensweise zurück. Dies war auch das Ergebnis des Aufgreifens dialektischer und fortschrittlich-rationaler sowie politisch-pragmatischer Traditionsstränge der eigenen Geschichte und des Lernens aus den eigenen wie auch den Fehlern anderer sozialistischer Staaten. Darüber hinaus gab und gibt es – entgegen westlicher Wahrnehmung – eine lebendige theoretische und gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Entwicklung des Landes in- und außerhalb der Partei.

Ob damit in Zukunft die Grundlagen für den Aufbau eines entwickelten Sozialismus in der VR China im Jahr 2049 geschaffen werden und dieser letztlich – wie von der KPCh geplant – aufgebaut wird, werden die nächsten Jahre und Jahrzehnte zeigen. Fest steht aber, dass die KPCh in den letzten Jahrzehnten ihre Versprechen halten und ihre Pläne erfüllen konnte. Die bisherigen Errungenschaften der Volksrepublik, die Errungenschaften für die eigene und für die Arbeiterklasse weltweit sind, können sich sehen lassen.

Die von der KPCh getragene Entwicklung der VR China von einem armen, abhängigen Land zur Industrienation und zum Global Player markiert auch das Ende der kolumbianischen Epoche, die für die ökonomische, technologische, politische und ideologische Dominanz des Westens über die Länder des Trikonts steht. Im Gesamtzusammenhang gesehen ist dies ein welthistorischer Fortschritt im System der globalen Arbeitsteilung und des internationalen Klassenkampfs für die Arbeiterklasse weltweit – unabhängig davon, wie man die aktuellen widersprüchlichen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Volksrepublik nun einschätzen mag.

Trotz aller Widersprüchlichkeiten ist die KPCh mit ihren Errungenschaften eine der bedeutendsten Kräfte des epochalen Impulses der Oktoberrevolution, der nach wie vor – ähnlich dem bürgerlich-progressiven, der von der Französischen Revolution ausgegangen war, doch in größerem Maße – Wirkung im Weltmaßstab entfaltet. Für die fortschrittliche Bewegung muss daraus unbedingt ein kritisch-solidarisches Verhältnis zur Volksrepublik und zur KPCh folgen, auf dessen Grundlage unterschiedliche Zugänge und mögliche gemeinsame Wege diskutiert, reflektiert und erprobt werden können.

Als welthistorisches Individuum und als eine der bedeutendsten kommunistischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts steht Mao emblematisch für das Aufstehen der chinesischen Nation. Gerade heute – in Zeiten sich verschärfender imperialistischer Konkurrenz, eines neuen Kalten Krieges und immer offenerer Versuche neokolonialer Unterjochung der Welt durch die imperialistischen Metropolen – lohnt sich eine Beschäftigung mit seinem Werk und Wirken. Seine ursprüngliche Verknüpfung des Reflektierens nationaler Ausgangsbedingungen mit der sozialen Frage und dem internationalen antiimperialistischen Kampf sollte heute wieder Maßstab für kommunistische Politik sein.

Im Dezember vor 130 Jahren wurde der Mitbegründer der KPCh und der VR China, Mao Zedong, geboren. Er starb am 9. September 1976. Sein Leben ist eng verknüpft mit der Entwicklung des Marxismus-Leninismus in der Volksrepublik und dem widersprüchlichen Werden des Landes. Wir hatten angekündigt, an dieser Stelle mit der Weiterführung der Debatte zur VR China zu beginnen. Wir haben uns dafür entschieden, diesen Text vorzuziehen, da er einen guten Überblick über die Geschichte der Volksrepublik, ihre Kontinuität und Brüche, bis zum Beginn der Reform- und Öffnungspolitik bietet. Hinweis zur Überschrift: „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ ist eine 2.000 Jahre alte chinesische Redewendung, die Mao popularisierte und die von Deng Xiaoping für den Sozialismus chinesischer Prägung aufgegriffen wurde.

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"Die Wahrheit in den Tatsachen suchen", UZ vom 15. September 2023



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