Hannah Arendt schrieb, die scheinbar ohnmächtige, im Zusammenprall mit Mächten und Interessen unterdrückte Wahrheit habe eine „Kraft eigener Art“. Es gebe nichts, was sie ersetzen könnte. Und tatsächlich: Sind die Lügen der Herrschenden enttarnt, treten die Fakten als den Urhebern unbequeme Wahrheiten in die Zeitgeschichte, und die Völker können erkennen, wer sie belogen hat.
Die Historie ist voller Beispiele dafür. Denken wir an die gefakten Anlässe imperialistischer Kriege: den in polnischen Uniformen verübten deutschen Überfall auf den Sender Gleiwitz als Rechtfertigung für Hitlers Raubzug, den vermeintlichen Tonkin-Zwischenfall als Begründung für das amerikanische Eingreifen in den Vietnam-Krieg, die vor der UNO behaupteten, jedoch nie gefundenen Massenvernichtungswaffen im Irak für das US-geführte Inferno im Nahen Osten, der geschichtsklitternde Auschwitz-Vergleich als Feigenblatt für die deutsche Beteiligung an der Bombardierung jugoslawischer Städte. Oder erinnern wir uns an die verlogenen Demokratie-Beschwörungen, mit denen die Regime-Change-Factory CIA den Sturz der Führer frei gewählter Regierungen betrieb, wann immer diese die Belange ihrer Völker über die globalstrategischen oder ökonomischen Interessen des angemaßten Washingtoner Weltgendarmen stellten.
Erinnert sei an die Schicksale von Mohammad Mossadegh im Iran, Jacobo Árbenz in Guatemala, Patrice Lumumba im Kongo, João Goulart in Brasilien, Cheddi Jagan in Guyana, Juan Bosch in der Dominikanischen Republik, Salvador Allende in Chile. Sogar das kleine Grenada wurde von den USA überfallen, weil es sich für sozialistische Perspektiven interessierte. Unvergessen auch die vielen erfolglosen Attacken im Mantel imperialistischer „Werteverteidigung“, darunter 638 Mordversuche an Fidel Castro und das Fiasko in der kubanischen Schweinebucht, die Schlächtereien bezahlter Contras im sandinistischen Nicaragua, die konterrevolutionäre Einflussnahme auf die politischen Wege Brasiliens, Venezuelas und anderer Staaten nicht allein in Lateinamerika. Die genozidalen Bombardements Israels gegen Gazas Zivilbevölkerung, eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Aktionen der Hamas am 7. Oktober, werden von Netanjahu als Verteidigungsschläge behauptet und sind in Wahrheit ein großisraelischer Expansionskrieg.
Wer hierzulande die genuinen Interessen der palästinensischen Bevölkerung verteidigt und die BRD als Israels zweitgrößten Waffenlieferanten zum Einlenken auffordert, setzt sich dem Vorwurf antisemitischer Gesinnung aus. Dabei werden nur besonnene Forderungen aus der israelischen Gesellschaft bekräftigt, die Sicherheit des Landes in einem friedvollen Verhältnis zur arabischen Nachbarschaft zu suchen. So sehr uns die Lügengespinste bedrücken, die der westlichen „Wertewelt“ zur Rechtfertigung ihrer Attacken gegen eine gerechtere Neuordnung der Welt dienen sollen, es bleibt die Aussicht auf deren Zerfall und die Kenntlichkeit der Wahrheit.
Dieser Tage kam wieder einiges ans Licht. In Rumänien war die nach der Erstplatzierung des als russlandfreundlich beschriebenen Präsidentschaftskandidaten Georgescu ausstehende Stichwahl vom Verfassungsgericht mit der eigentümlichen Begründung abgesagt worden, eine TikTok-Kampagne zugunsten Georgescus sei vom Kreml gesteuert gewesen. So hatte es der rumänische Geheimdienst SRI behauptet. Ein unabhängiges rumänisches Journalistenmagazin hat nun berichtet, dass die Kampagne von der gegnerischen Partei PNL bestellt und bezahlt worden sei. Demokratie im Verfall.
Eine andere beklemmende Wahrheit war in der „Berliner Zeitung“ zu lesen. Der Politikforscher Muamer Becirovic hat unter Hinweis auf Studien von Chaya Arora aufgezeigt, „wie Deutschland die USA zur NATO-Osterweiterung provozierte“ („Berliner Zeitung“ vom 24.-26. Dezember). Der verstorbene Vizeadmiral Ulrich Weisser und der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe hätten 1991 bei einem deutschen Thinktank eine Ausarbeitung der günstigsten außenpolitischen Optionen für Deutschland bestellt, seien aber vom Resultat auch deshalb enttäuscht gewesen, weil darin Pläne zur Osterweiterung der NATO keinen Applaus fanden. Deshalb habe man sich an die Experten der US-amerikanischen RAND-Gruppe gewandt und dabei auf deren Einfluss im Washingtoner Politikgeschäft spekuliert. Dieser Vorstoß aus der zweiten Reihe sei erfolgreich gewesen. Ohne sie hätte es wohl keine NATO-Osterweiterung gegeben, meint der Wissenschaftler, und sieht sich durch die Memoiren Helmut Kohls bestätigt: „(…) ohne Deutschlands Beitrag wäre die NATO, dieser Stützpfeiler der europäischen Sicherheit, zerstört worden.“ Bedenkt man, welche Auswirkungen der NATO-Drang nach Osten für das Verhältnis zu Russland und die Auslösung des Ukraine-Krieges gehabt hat, so gewinnt die wenig bekannte deutsche Einflussnahme noch nachträglich an außerordentlicher Brisanz. Merke: Die Wahrheit kommt früher oder später heraus. Sie zu erkennen und zu verteidigen schafft erst jene Souveränität, mit der sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern lassen.