Ein historischer Meilenstein wurde im November vergangenen Jahres weitgehend unbemerkt passiert: Die VR China existiert seither schon länger als die Sowjetunion Bestand hatte. Selbst dann, wenn man die Lebensdauer der Letzteren, wie es sich gehört, beginnend mit der Oktoberrevolution 1917 und nicht mit ihrer tatsächlichen Gründung im Jahr 1922 berechnet.
Solche Zahlenspiele mögen an und für sich wenig bedeuten, aber dieser Meilenstein ist von großer historischer Bedeutung. Die Spitze der menschlichen Entwicklung hat sich von Europa und Nordamerika nach Asien und in den pazifischen Raum verlagert. Die Verwüstungen, die 300 Jahre Imperialismus angerichtet haben, werden allmählich rückgängig gemacht. Der Aufstieg Chinas nach einem Jahrhundert gewaltsamer Unterbrechung durch westliche Aggression wäre selbst dann von Bedeutung, wenn es sich um ein rein kapitalistisches Projekt handeln würde – was seine Kritiker behaupten, die chinesische Regierung selbst aber nachdrücklich verneint. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Volksrepublik ihren Fortschritt in den Rahmen der weltweiten Bewegung für den Sozialismus sowie der leidvollen Geschichte des Landes stellt.
Die russische und die chinesische Revolution waren eng verknüpft. Die chinesischen Kommunisten sagen gern, dass die Salven der Oktoberrevolution den Marxismus nach China brachten. Das ist in der Tat wahr, denn vor Wladimir Iljitsch Lenin und der Kommunistischen Internationale gab es in China keinen Marxismus und keine marxistische Partei – anders als in Europa, wo die marxistischen Traditionen bereits vor dem Ersten Weltkrieg blühten. Es war der sowjetische Marxismus, der die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ursprünglich geprägt hat. Und ohne die KPCh wäre der Kampf für Chinas Befreiung vom Imperialismus in den korrumpierten und kompromittierten Händen der Kuomintang geblieben.
In diesem Sinn ist das vielleicht nachhaltigste Vermächtnis der Russischen Revolution in der Weltgeschichte die chinesische Revolution. Die Frage, warum und wie das sozialistische China länger überlebt hat als sein sowjetischer Vorläufer, ist sehr kompliziert. Die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er Jahren sind endlos wiedergekäut worden. Aber es besteht wohl Einigkeit darüber, dass ein wesentlicher Faktor der unnachgiebige Druck des westlichen Imperialismus auf den sowjetischen Staat war, der letztlich über das hinausging, was dessen Wirtschaftssystem ohne Weiteres aushalten konnte.
Ein Problem, das China zu lösen scheint. Seine zunehmende wirtschaftliche Stärke hat nicht nur seine Unabhängigkeit garantiert – das hat auch der sowjetische Sozialismus geschafft –, sondern es war in der Lage, sich selbst auf einem höheren Niveau zu reproduzieren – bis zu einem Punkt, an dem es nahezu unmöglich erscheint, durch wirtschaftlichen Zwang, der sich in einem Wettrüsten oder auf andere Weise äußert, gebrochen zu werden.
Die Verbindungen zwischen den beiden großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sollten uns jedoch nicht über die Diskontinuitäten hinwegtäuschen. Die KPCh mag den Marxismus-Leninismus der Komintern als Grundlage genommen haben, aber ihre Arbeit – jedenfalls seit 1935 – drehte sich um den Versuch, diese Prinzipien in eine Realität zu integrieren, die sich sehr von der unterscheidet, die den Marxismus ursprünglich hervorgebracht hat. Die KPCh war die Erbin einheimischer revolutionärer Traditionen wie etwa des Taiping-Aufstands im 19. Jahrhundert, einer jahrzehntelangen Erhebung, die von einer Art christlich-utopischem Bauernkommunismus getragen wurde und die Pariser Kommune an Dauer und Blutvergießen in den Schatten stellte.
Die Geschichte des chinesischen Sozialismus muss vor diesem Hintergrund ebenso oder sogar noch mehr studiert werden als die – im Westen – vertrauten Erzählungen der internationalen kommunistischen Bewegung von Lenin, Stalin und darüber hinaus. Die KPCh bezeichnet ihren langen Kampf, die marxistische Politik in China anzuwenden, als Anpassung des Marxismus an die nationalen Besonderheiten. Es ist jedoch auch ein dialektischer Schritt in der Universalisierung des Marxismus, einer Lehre, die zuerst im industrialisierten Westeuropa aus Quellen wie der Hegelschen Philosophie und dem französischen Verständnis des Sozialismus entwickelt wurde.
Es sollte weder überraschen noch beunruhigen, dass der chinesische Marxismus aus einer Vielzahl von Quellen gespeist wird, von denen Marx und Engels wenig oder nichts wussten. Das ist das unvermeidliche Zusammenspiel der Entwicklung einer Methodologie, die darauf abzielt, die Gesamtheit der sozialen Erfahrung in der Welt zu erfassen – und das sollte in die Debatte darüber einfließen, ob China heute authentisch sozialistisch ist oder nicht. Sozialismus und Kapitalismus sind universell anwendbare Begriffe, aber zu erwarten, dass sie im Lauf der Jahrhunderte und über die ganze Welt hinweg dieselbe präzise Definition behalten, bedeutet in gewisser Weise, den Marxismus selbst zu leugnen.
Die KPCh erhebt nicht den Anspruch, ein Modell zu entwickeln, dem alle Länder folgen können. Der chinesische Sozialismus unterscheidet sich also sehr vom sowjetischen Sozialismus – in guter und in schlechter Hinsicht. Positiv ist, dass er überdauert hat und das chinesische Volk von dem anhaltenden Wirtschaftswachstum in erstaunlichem Maß profitiert. Und in dem Maß, wie sich China behauptet hat, hat sich auch der Globale Süden behauptet und einen losen Pol der Opposition gegen den Imperialismus gebildet, wenn auch nicht in seiner Form des 20. Jahrhunderts, sondern durch den Einsatz einer Vielzahl wirtschaftlicher Mechanismen, von denen einige eindeutig das Risiko bergen, letztlich den Klassencharakter Chinas zu erschüttern. Massive Einkommensunterschiede und anhaltende Arbeitslosigkeit müssen auf der negativen Seite des Kontos verbucht werden – beides lässt sich nicht mit einer ernsthaften Vorstellung von Sozialismus in Einklang bringen.
Die chinesischen Kommunisten haben jedoch stets argumentiert, dass der Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft Jahrhunderte in Anspruch nehmen wird und es sich dabei nicht – wie zu Sowjetzeiten – um einen relativ schnellen Sprint handelt. Das ist vielleicht ein schwer zu begreifendes Konzept. Schließlich würden Sozialisten ihre Bemühungen um eine bessere Gesellschaft gern noch zu ihren Lebzeiten verwirklicht sehen und zudem könnte die Bedrohung durch den Klimawandel und katastrophale Kriege die Aussicht auf einen solch langwierigen Fortschritt zu einem unerschwinglichen Luxus machen. Dennoch ist dieses Konzept nicht unrealistisch, wenn man sich die Fakten ansieht.
Und auch wenn man bedauern mag, dass die KPCh sich nicht als Zentrum der weltweiten revolutionären Bewegung sieht wie einst die KPdSU, so ist doch unbestreitbar, dass die Perspektive des Sozialismus in der Welt heute schwer auf den chinesischen Schultern ruht.
Es wird erzählt – der Wahrheitsgehalt ist zweifelhaft –, dass Lenin an dem Tag, an dem seine Sowjetregierung länger existierte als das erste Arbeiterregime – die Pariser Kommune –, in Moskau im Schnee tanzte. Es ist schwer vorstellbar, dass Xi Jinping vor Freude hüpft, aber das sollte uns alle nicht davon abhalten, die enormen Leistungen der KPCh und des chinesischen Volkes anzuerkennen.