Eine marxistisch-leninistische Analyse des Krieges in der Ukraine und der Situation in Russland

Die Völker brauchen Frieden!

Denis Parfjonow

Die Ereignisse in der Ukraine haben niemanden gleichgültig gelassen. Die Spezialoperation der russischen Truppen, die fast wie aus heiterem Himmel kam, hat die Gesellschaft aufgewühlt. Die ersten Tage des Krieges zeigten, dass das Ausmaß des Geschehens nicht nur weit über die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch über den Rahmen des europäischen Kontinents hinausging. Die wirtschaftlichen Folgen werden für einen erheblichen Teil der Welt wahrnehmbar sein und in Russland selbst wird sich vieles äußerst radikal ändern.

Vor dem Hintergrund der Kampfhandlungen, des verzweifelten Krieges im Informationsbereich und der harten Wirtschaftssanktionen haben viele russische Bürger gemischte Gefühle, die Gesellschaft schwankt zwischen Extremen: von wildem Hurrapatriotismus bis hin zu radikalem Pazifismus mit der Forderung nach Frieden hier und jetzt, egal was passiert.

Es ist wichtig, nicht den Versuchen sowohl der russischen als auch der prowestlichen Propaganda nachzugeben und das Geschehen aus einer marxistisch-leninistischen Perspektive zu analysieren.

Krieg ist nicht gleich Krieg

Lenin ging bei der Analyse dieser oder jener Kriege von einem dialektisch-materialistischen und konkret-historischen Ansatz aus und wies darauf hin, dass Krieg nicht gleich Krieg ist. Nach Lenin werden die Kriege in zwei Typen unterteilt: Erstens Kriege, die im Interesse der herrschenden Klassen geführt werden – in der Regel Angriffskriege, Eroberungskriege, Kriege zur Neuaufteilung von Einflusssphären und Absatzmärkten, um Zugang zu Ressourcen und so weiter. In seiner Arbeit „Sozialismus und Krieg“ gibt Lenin ein anschauliches Beispiel: Wenn sich ein Sklavenhalter mit 200 Sklaven und ein Sklavenhalter mit 100 Sklaven im Krieg befinden, möchte letzterer natürlich die Verteilung zu seinen Gunsten „gerechter“ gestalten, indem er die Zahl seiner Sklaven erhöht und die Zahl der Sklaven des Gegners verringert.

Natürlich bringen solche Kriege nichts Gutes für das einfache Volk. Sie bringen – wie jeder Krieg – Kummer, Leid und Tod, aber sie tasten in keiner Weise das System der Ausbeutung und Versklavung an, rühren nicht an die Grundlagen der Gesellschaft, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht, bedrohen nicht die Klassenherrschaft der Ausbeuter.

Aber es gibt zweitens auch andere Kriege, Kriege, die fortschrittlich sein können: Befreiungskriege. Dabei geht es in erster Linie um Kriege gegen nationale Unterdrückung, gegen die koloniale Versklavung der einen Völker durch andere, aber auch um Kriege gegen die herrschenden Klassen – Bürgerkriege oder revolutionäre Kriege. Solche Kriege können schließlich zu einer Verbesserung der Lage der werktätigen Mehrheit führen – und in diesem Sinne können sie gerecht und gerechtfertigt sein, auch wenn sie mit Gewalt und großen Entbehrungen verbunden sind, was für jeden Krieg charakteristisch ist.

Der doppelte Charakter des Krieges

Gerade aus diesem Blickwinkel sind die Ereignisse in der Ukraine zu verstehen: Es gibt dort Merkmale beider Typen von Kriegen. Das heißt: Der Krieg in der Ukraine hat sowohl Merkmale eines Befreiungskrieges als auch eines imperialistischen Krieges.

Einerseits ist der Kampf gegen die Nazis, die Bandera-Anhänger und die proamerikanische halbkoloniale Verwaltung aus Sicht des Volkes des Donbass und in nicht geringem Maße des Volkes der gesamten Ukraine ein großer Segen. Acht Jahre Quälerei und Völkermord vonseiten der ukrainischen Soldateska und der Nationalisten, 14.000 Tote, enorme Zerstörung, Leid und harte Schicksale des Volkes des Donbass können nicht vergessen werden. In all diesen Jahren hat sich die Kommunistische Partei der Russischen Föderation konsequent für die Anerkennung der DVR und der LVR eingesetzt – kommunistische Abgeordnete und Parteiführer haben an allen Orten darüber gesprochen und das Thema der Anerkennung wurde in alle Wahlprogramme aufgenommen. In dieser Zeit hat die KPRF 93 humanitäre Konvois in den Donbass entsandt und insgesamt mehr als 13.000 Tonnen Lebensmittel, Baumaterial und Medikamente an die Verteidiger und Einwohner des Donbass geliefert. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die Ereignisse im Donbass 2014 bis 2015 gerade als Volksrevolution begannen und eine eindeutig sozialistische Komponente des Kampfes für soziale Gerechtigkeit gegen den Kapitalismus hatten. Leider hat der Kreml in der Folge seinen Einfluss genutzt, um diese Bestrebungen zu unterbinden. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die russische Regierung all diese acht Jahre lang gezögert und versucht hat, mit den Bandera-Anhängern in Kiew zu verhandeln und Unterstützung bei der ukrainischen Oligarchie zu finden.

Wie der Vorsitzende des Zentralkomitees der KPRF, Gennadi Sjuganow, in seiner Erklärung „Es ist an der Zeit, die Aktionen der NATO zur Faschisierung der Ukraine zu stoppen“ zu Recht betonte, kann die Aufgabe der Befreiung von dieser Nazi-Bandera-Bande und der Entnazifizierung des Landes heute nicht vom ukrainischen Volk selbst gelöst werden. In dieser Hinsicht sind die Aufgaben der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, eines Regimewechsels zu einer russlandfreundlicheren Regierung und der Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine prinzipielle Fragen. Gleichzeitig darf es keine Illusionen geben: Die Entnazifizierung der Ukraine wurde von Menschen aus der russischen Führung in Angriff genommen, die selbst den faschistisch angehauchten Philosophen Iwan Iljin lesen, nicht davon zurückschrecken, Mannerheim-Denkmäler zu errichten und Blumen am „Jelzin-Zentrum“ niederlegen.

Es muss aber auch verstanden werden, dass Russland keineswegs ein sozialistischer Staat ist, der anderen Nationen die Befreiung von Ausbeutern und Ideen der sozialen Gerechtigkeit bringt. Russland ist selbst ein kapitalistischer Staat mit oligarchischer Leitung. Ein aufmerksamer Zuschauer, der die Rede von Präsident Putin zur Anerkennung der DVR und LVR angesehen und die ersten 20 Minuten davon verpasst hat, wird vielleicht nicht verstanden haben, über welches Land das Staatsoberhaupt sprach, als es Korruption, Oligarchie, den Zusammenbruch der Industrie und so weiter anprangerte. Putin hat die Ukraine kritisiert, aber viele der von ihm hervorgehobenen Schwächen des Gesellschaftssystems sind auch Russland in vollem Maße zu eigen.

Der Kampf um die Ukraine findet zwischen kapitalistischen Mächten statt: Das kapitalistische Russland versucht, die Ukraine der externen Leitung durch die größte imperialistische Macht, die USA, zu entreißen.

Dieser doppelte Charakter des Krieges diktiert eine doppelte und sogar widersprüchliche Haltung zu ihm in der russischen Gesellschaft.

Westliche Einflussnahme

Der kollektive Westen hatte beträchtliche Anstrengungen unternommen, um die Ereignisse auf die heutige tragische Wendung hinzuführen. Welche Politik hat Russland gegenüber der Ukraine in praktisch allen Jahren seit der Zerstörung der UdSSR verfolgt? Die Ukraine war vor allem zu Neujahr ein Thema, wenn es darum ging, Gasverträge neu zu verhandeln, was oft mit Skandalen verbunden war. Unterdessen verschwendeten unsere westlichen „Partner“ keine Zeit: Sie kauften die Medien in der Ukraine auf, veröffentlichten pseudohistorische Literatur, billigten die Verherrlichung von Naziverbrechern und legten großen Wert auf die Veränderung des Bildungssystems, um die nachwachsenden Generationen im Geiste des Nationalismus, der staatlichen Unabhängigkeit und des Chauvinismus zu erziehen. Für die vergangenen Jahrzehnte muss ein völliges Scheitern der russischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine festgestellt werden. Die Orientierung der russischen Führung auf oligarchische Gruppen in der Ukraine selbst ist völlig gescheitert.

Die Tragödie, die sich jetzt abspielt, ist die Folge dieses Herangehens. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Führung der Westmächte im Stillen vor Freude die Hände reibt: Schließlich ist der jahrhundertealte Traum des Westens, die slawischen Völker – Russen und Ukrainer – aufeinander zu hetzen, wahr geworden.

Pazifismus im Kapitalismus

Die Gefühle der Menschen, die heute die Kampfhandlungen mit Entsetzen und Bitterkeit beobachten und nach Frieden rufen, sind verständlich. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde seinem eigenen Land und seinem Volk einen Krieg wünschen. Gleichzeitig müssen auch die pazifistischen Haltungen verstanden werden, die plötzlich von vielen entdeckt werden – und auch hier kommt uns Genosse Lenin zu Hilfe: „Der Pazifismus und die abstrakte Friedenspropaganda stellen eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse dar. Unter dem Kapitalismus, insbesondere in seinem imperialistischen Stadium, sind Kriege unausbleiblich. Anderseits können die Kommunisten die positive Bedeutung von revolutionären Kriegen nicht verneinen, das heißt nicht von imperialistischen, sondern von solchen Kriegen, wie sie zur Beseitigung nationaler Unterdrückung (…) geführt wurden, oder wie sie zur Verteidigung der Errungenschaften eines im Kampf mit der Bourgeoisie siegreichen Proletariats möglich sind.

Friedenspropaganda ohne gleichzeitige Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, kann das Proletariat nur korrumpieren, indem es sein Vertrauen auf die Humanität der Bourgeoisie zu setzen angehalten wird, sie kann das Proletariat nur zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen. (…) Insbesondere ist der Gedanke an die Möglichkeit eines sogenannten demokratischen Friedens ohne eine Reihe von Revolutionen grundfalsch.“

Der wirkliche Kampf für den Frieden ist also nur zusammen mit dem Kampf für die Revolution, für die radikale Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, für die Ablehnung des kapitalistischen Systems, für die Schaffung eines grundlegend anderen sozioökonomischen Systems, für den Aufbau einer Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit möglich.

Kampf für den Sozialismus ist Kampf für den Frieden

Im vergangenen Jahr hatte der Verfasser die Möglichkeit, 146 Treffen mit Wählerinnen und Wählern abzuhalten. Aus den Gesprächen mit den Menschen ging klar hervor, dass viele Bürger – manche naiv der Propaganda erliegend oder aufrichtig auf Stabilität hoffend – bereit waren, für die derzeitige Regierung zu stimmen – nach dem Motto „Wenn es nur keinen Krieg gäbe!“ Und jetzt haben sie eine eiskalte Dusche bekommen, was zeigt, dass alle Hoffnungen auf Stabilität und ein mehr oder weniger anständiges bürgerliches Wohlergehen gescheitert sind. Die wirtschaftlichen Folgen des neuen Sanktionspakets und einiger der Rezepte, mit denen die Regierung und die Zentralbank die Wirtschaft „retten“ wollen, werden die ohnehin schon weitgehend geleerten Taschen des durchschnittlichen Arbeiters, Studenten, Rentners, der jungen Mutter schwer belasten. Bald werden dies auch die Soldaten zu spüren bekommen, die heute mutig komplizierte Kampfaufgaben unter besonderen Bedingungen erfüllen. Man möchte glauben, dass dies der Weg zum endgültigen Erwachen des Selbstbewusstseins unseres Volkes sein wird, um in den Massen den entschlossenen Willen zu wecken, für ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Interessen zu kämpfen.

Die Kommunisten haben die herrschende Elite wiederholt gewarnt, nicht leichtfertig mit den Reservemitteln umzugehen und sie nicht nur anzusparen, sondern auch für die Entwicklung der Industrie und des Humanpotenzials des Landes auszugeben. Aber man hat uns nicht zugehört. Die liberalen Rezepte des IWF, nach denen die russische Führung den größten Teil der Gold- und Devisenreserven im Westen aufbewahrte, haben zu einer Blockierung dieser milliardenschweren Ersparnisse – des Geldes unseres Volkes – geführt. Eine Erhöhung des Diskontsatzes durch die Zentralbank wird sehr bald zu einer Implosion des Kreditmarktes führen, gefolgt von einem Zusammenbruch der Bauindustrie und vieler anderer Bereiche. Eine erhebliche Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage zeichnet sich ab und Inflation und Arbeitslosigkeit werden noch stärker ansteigen.

Es ist wahrscheinlich, dass – wie vor etwas mehr als 100 Jahren – die Härten des Krieges und seiner Folgen, die von der Bevölkerung getragen werden, viele zur Einsicht zwingen werden, dass der Kapitalismus in Russland total und vollständig bankrott ist. Ohne Sozialismus und ohne die Einheit der Völker von Russland, Belarus und Ukraine sind unsere Chancen auf ein historisches Überleben verschwindend gering. Die Lage ist also klar: Der politische Kampf um Russland und die Ukraine hat gerade erst begonnen. Die Völker brauchen einen stabilen und gerechten Frieden: Einen Frieden, der nur möglich ist, wenn wir den Kapitalismus mit seinen endlosen Konflikten und Widersprüchen abschaffen; einen Frieden, der nur möglich ist, wenn wir die parasitären Klassen entmachten und eine Gesellschaft der gleichen Möglichkeiten aufbauen; einen wirklich demokratischen Frieden für die arbeitenden Menschen. Der Kampf für den Sozialismus ist der Kampf für den Frieden!

Unser Autor ist Sekretär für Agitation und Propaganda der Moskauer Stadtorganisation der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation sowie Staatsduma-Abgeordneter.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die Völker brauchen Frieden!", UZ vom 1. April 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit