Ungleichheit im „Corona-Kapitalismus“ der Gegenwart

Die Vergessenen der Pandemie

Christoph Butterwegge

„Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem der Bundesrepublik, wenn nicht der ganzen Menschheit. Darüber ist nach dem Zweiten Weltkrieg nie mehr so viel gesprochen worden wie im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie, die sie deutlicher hervortreten ließ und teilweise noch verschärft hat.“ Mit diesen Sätzen beginnt der Beitrag „Ungleichheit im Corona-Kapitalismus der Gegenwart“ im „isw-report“ Nr. 127. Die Pandemie ist nicht Ursache oder Auslöser der tiefen sozioökonomischen Spaltung der deutschen Gesellschaft, hat aber zur weiteren Vertiefung des Grabens zwischen Besitzlosen und Vermögenden geführt – die Reichen sind noch reicher geworden und haben von der Krise profitiert, während deren Lasten auf die ärmeren Teile der Bevölkerung abgewälzt wurden und werden. Die Maßnahmen der Regierung haben die Verteilungsschieflage eher noch verstärkt und kamen letztlich denjenigen zugute, die ihrer nicht bedurft hätten. Prof. Dr. Christoph Butterwegge, der Autor des Beitrags, ist Armutsforscher und hat jüngst zusammen mit seiner Ehefrau Carolin das Buch „Kinder der Ungleichheit – Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht. Wir drucken den Beitrag in Auszügen und redaktionell bearbeitet und bedanken uns für die Genehmigung zur Nutzung.

Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Tine Haubner weisen darauf hin, dass Ältere nicht etwa „von Natur aus“ anfälliger für eine Infektion mit dem SARS-CoV-2 und eine Covid-19-Erkrankung sind, ihr erhöhtes Krankheitsrisiko vielmehr eine soziale Komponente hat: „Gesundheitszustand und Lebenserwartung sind in Deutschland, wie in den meisten anderen Ländern auch, hochgradig klassenspezifisch verteilt: So leben die einkommensstärksten 20 Prozent der Männer hierzulande fast neun Jahre länger als die einkommensschwächsten 20 Prozent.“ Wegen der höheren Lebenserwartung von Reichen gilt selbst in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland die makabre Faustregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Während der Corona-Pandemie galt allerdings: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn das Infektionsrisiko von Arbeitslosen, sozial Abgehängten und Armen war deutlich höher als das von Reichen.

Die polarisierende Wirkung der Covid-19-Pandemie

Eigentlich sollte man annehmen, dass vor einem Virus alle Menschen gleich sind. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren stimmt dies, im Hinblick auf das Infektionsrisiko allerdings keineswegs. So traf die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Menschen in der Bundesrepublik, aber mitnichten alle gleichermaßen. Wie sich bald zeigte, hing das Infektionsrisiko einer Person wesentlich von ihren Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen ab. Wer einen großen räumlichen Abstand zu seinen Mitmenschen halten konnte, hatte ein geringes Ansteckungsrisiko.

Von einem „Ungleichheitsvirus“ (Colin Gordon) kann ebenso wenig die Rede sein wie von einem „großen Gleichmacher“ (Andrew Cuomo). Denn weder hat es die Kluft zwischen Arm und Reich verursacht, noch war das neuartige Coronavirus für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich, auf die es traf. Unter ihnen ließ Covid-19 die bestehenden Interessengegensätze nur deutlicher hervortreten, während sie der Lockdown und die staatlichen Rettungspakete zuspitzten. Nicht das Coronavirus ist unsozial, sondern eine reiche, unter dem Einfluss des Neoliberalismus stehende Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor den Infektionsrisiken und den wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie schützt.

Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Nico Dragano hat zusammen mit einigen Kollegen untersucht, ob die Covid-19-Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen die gesundheitlichen Ungleichheiten verschärfen. Ihre auf Daten der AOK Rheinland/Hamburg basierende Studie ergab einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Unterschieden (vor allem in Bezug auf das Einkommen, den Bildungsgrad sowie die berufliche Position) und der Häufigkeit von schweren Verläufen einer Corona-Infektion. Gegenüber den erwerbstätigen Versicherten hatten Arbeitslosengeld-I-Bezieher im Untersuchungszeitraum vom 1. Januar bis zum 4. Juni 2020 ein um 18 Prozent, Arbeitslosengeld-II-Bezieher sogar ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalt.

Hauptopfer fast aller Pandemien sind die Armen in einer von ihnen heimgesuchten Gesellschaft. Dazu gehören hierzulande Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften wie Strafgefangene, Geflüchtete, (süd-)ost-europäische Werkvertragsarbeiter der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien beziehungsweise Fleischfabriken und nicht deutsche Saisonarbeiter, Migranten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener, Kleinstrentner und Transferleistungsbezieher (Empfänger von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen).

Unsummen für die Wirtschaft – Brosamen für die Armen

Die mit Verzögerung einsetzende, als größte Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg geltende Krise warf nicht bloß ein Schlaglicht auf die hierzulande bestehende Ungleichheit, verschärfte sie in Teilbereichen vielmehr noch. Einerseits blieben Kurzarbeit für mehrere Millionen Beschäftigte, Insolvenzen kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie massenhafte Entlassungen (zum Beispiel in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen (zum Beispiel Lebensmittel-Discounter, Drogeriemärkte, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie) in der Corona-Krise sogar Extraprofite.

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Corona-Krise nach kurzem Zögern fast über Nacht mehr als 1,5 Billionen Euro für direkte Finanzhilfen, Bürgschaften und Kredite mobilisiert. Letztere wurden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) abgewickelt und kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während kleine und mittlere Unternehmen mit einmaligen Zuschüssen unterstützt wurden, die laufende Betriebskosten deckten, aber nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet werden durften. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung profitierten, mussten sich die Finanzschwachen verglichen mit den Fördermaßnahmen für die Wirtschaft bescheiden. Da bei ihnen von den milliardenschweren Hilfspaketen und Rettungsschirmen für die Unternehmen kaum etwas ankam, stieg ihre Überschuldung während der historischen Ausnahmesituation.

Alleinerziehenden gewährte die Große Koalition aufgrund ihres höheren Betreuungsaufwandes und der damit verbundenen finanziellen Mehraufwendungen auf zwei Jahre befristet einen höheren Entlastungsbetrag, den allerdings nur solche Elternteile nutzen können, die Steuern auf ein relativ hohes Einkommen zahlen müssen. Die von Armut betroffenen oder bedrohten Alleinerziehenden – das waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes schon vor der Covid-19-Pandemie, dem Lockdown und der Rezession immerhin 42,7 Prozent aller Alleinerziehenden – kommen nicht in den Genuss dieser Maßnahme, weil sie gar keine oder zu wenig Einkommensteuer zahlen müssen.

Dieser Konstruktionsfehler einer an sich durchaus zweckmäßigen Hilfsmaßnahme war typisch für die Regierungspolitik. Wenn sie einem Vergabeprinzip folgt, ist es die „Leistungsgerechtigkeit“, bei der es um den ökonomischen Erfolg einer Personengruppe geht, die Hilfe braucht: Gewinneinbußen vor der Covid-19-Pandemie rentabler Unternehmen wollte die Große Koalition mittels finanzieller Soforthilfen ausgleichen, und Lohn- beziehungsweise Gehaltseinbußen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sollten mittels Kurzarbeitergeld abgemildert werden. Transferleistungsempfänger hatten durch den Lockdown hingegen scheinbar nichts verloren und daher auch wenig zu erwarten. Relativ großzügig unterstützt wurden hauptsächlich Menschen, denen es gar nicht so schlecht wie vielen anderen ging, die man eher „vergessen“ beziehungsweise systematisch übergangen hat. Stattdessen hätte die Bedarfsgerechtigkeit als Ziel von Hilfsmaßnahmen im Mittelpunkt aller Bemühungen der politisch Verantwortlichen stehen und das Motto lauten sollen: Wer wenig hat, muss besonders viel, und wer viel hat, muss entsprechend wenig Unterstützung seitens des Sozialstaates bekommen.

Neoliberal-kapitalistische Realität

Weil die staatlichen Rettungspakete in Deutschland wie anderswo nicht mit klaren sozialen und ökologischen Auflagen verbunden wurden, waren sie laut dem Wiener Hochschullehrer Ulrich Brand „Teil der harten neoliberal-kapitalistischen Realität“, was ihn ein vernichtendes Urteil fällen ließ: „Es ist die altbekannte Strategie, insbesondere der großen Unternehmen und deren Kooperation mit dem Staat, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.“ Von der kanadischen Publizistin Naomi Klein übernimmt Brand den Begriff „Corona-Kapitalismus“, um damit die „Krisenbearbeitung im Sinne der Wohlhabenden und der naturzerstörerischen Wirtschaftsbranchen“ zu geißeln: „Durch die neuerlichen Schock-Politiken kommt es wie in früheren Krisen zur dauerhaften Stärkung der ohnehin Mächtigen, die keine Rücksicht auf Gesellschaft und Natur nehmen.“ Schon aus diesem Grund darf die Coronakrise nicht losgelöst von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen untersucht werden.

Die verteilungspolitische Schieflage der Rettungsschirme und Förderprogramme sollte man im Hinterkopf behalten, wenn es darum geht, wie deren Refinanzierung gesichert werden soll. Denn nach Bildung der neuen Bundesregierung werden sich die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe und die (partei-)politischen Auseinandersetzungen verschärfen, bei denen im Wesentlichen zwei Alternativen der Gesellschaftsentwicklung zur Debatte stehen: Man kann den Sozialstaat zur Ader und eher ärmere Bevölkerungsschichten die Kosten der Pandemie tragen lassen oder Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche mittels einer anderen Steuerpolitik zur Kasse bitten.

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"Die Vergessenen der Pandemie", UZ vom 10. Dezember 2021



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