Die aktuelle Hungersnot in Afghanistan hat mehrere Ursachen. Zum einen leidet das Land unter einer der gravierendsten Dürreperioden seit Jahrzehnten. Zum anderen hat die Covid-19-Pandemie tiefe Spuren hinterlassen. Vor allem aber ist die afghanische Wirtschaft mit dem überstürzten Abzug der westlichen Mächte im August 2021 kollabiert. Dem Westen ist es in der fast 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen, am Hindukusch eine eigenständige Ökonomie aufzubauen; Afghanistan blieb in hohem Maß von Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten – beispielsweise Dienstleistungen für die westlichen Truppen und für ziviles Personal aus dem Westen – und die darüber hinaus die Korruption begünstigten: typische Merkmale einer nicht tragfähigen Besatzungsökonomie. Während die auswärtigen Hilfsgelder im unmittelbaren Umfeld der westlichen Besatzer landeten oder von korrupten Funktionären ins Ausland transferiert wurden – oft etwa in die Vereinigten Arabischen Emirate –, verarmte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stellten die westlichen Staaten die Hilfszahlungen ein; dies entzog der afghanischen Besatzungsökonomie den Boden.
Den endgültigen Todesstoß haben der afghanischen Wirtschaft allerdings die Sanktionen versetzt, die ursprünglich gegen die Taliban verhängt wurden, nach deren Machtübernahme nun aber faktisch den kompletten Staatsapparat treffen. Unter anderem ist Afghanistan vom Zahlungsdienstleister SWIFT und damit vom globalen Finanzsystem abgeschnitten – mit gravierenden Folgen nicht nur für allerlei privatwirtschaftliche Tätigkeiten, sondern insbesondere auch für Hilfsorganisationen, denen es nun nicht mehr möglich ist, Hilfsgelder auf dem üblichen Weg ins Land zu transferieren. So muss etwa die Welthungerhilfe, wie Thomas ten Boer, ihr Landesdirektor für Afghanistan, berichtet, „mit Bargeldvermittlern“ – einheimischen Geldwechslern und -kurieren – arbeiten: „ein großer Hemmschuh“, erläutert ten Boer, „denn wir müssen jeden Einzelnen auf Verbindungen zu Geldwäsche oder zur Finanzierung von terroristischen Aktivitäten prüfen“. Dies sei wegen internationaler Richtlinien sogar dann unumgänglich, „wenn sämtliche Geldwechsler von der Regierung überprüft und offiziell zertifiziert und zuverlässig sind“. Die Forderung, den Ausschluss Afghanistans von SWIFT aufzuheben, um reguläre Finanztransfers wieder zu ermöglichen, prallt bislang an den westlichen Mächten ab.
Hinzu kommt, dass die westlichen Staaten im Sommer 2021 die Reserven der afghanischen Zentralbank (Da Afghanistan Bank, DAB) eingefroren haben – 7 Milliarden US-Dollar in den USA, rund 2,1 Milliarden US-Dollar vor allem bei Banken in Europa, zum Teil auch in Deutschland. Die Folgen sind fatal. So hat die Maßnahme, wie die internationale Kampagne United Against Inhumanity (UAI) schreibt, dazu geführt, dass die afghanische Zentralbank ihre Funktion nicht mehr angemessen ausüben kann. „Weitreichende (…) Störungen im Banken- und Handelssektor“ sind demnach die Folge; Afghanen, die etwa „im Gesundheits- und Bildungswesen beschäftigt“ sind, können keinen Lohn erhalten und haben zudem „keinen Zugang zu ihren Lebensersparnissen“ mehr. Die dramatische Liquiditätskrise steht jeglichem ökonomischen Wiederaufbau des Landes im Wege und verschärft die ohnehin verheerende Armut am Hindukusch. Mittlerweile sind nach Angaben der UNO bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 42 Millionen Menschen fast 23 Millionen Afghanen von akutem Hunger bedroht; 13 Millionen Kinder sind auf humanitäre Hilfe angewiesen; knapp vier Millionen Kinder sind unterernährt. Die Vereinten Nationen warnen vor „einer der umfassendsten humanitären Krisen, die die Welt je sah“.
Besondere Empörung hat hervorgerufen, dass US-Präsident Joseph Biden mit einer Executive Order vom 11. Februar das in den Vereinigten Staaten liegende Vermögen der afghanischen Zentralbank beschlagnahmt hat. Die Hälfte davon soll genutzt werden, um Angehörigen der Terroranschläge vom 11. September 2001 Entschädigung zu zahlen. Faktisch wird damit Afghanistans Bevölkerung für ein Verbrechen haftbar gemacht, das andere – Dschihadisten der Terrororganisation Al Kaida – begangen haben; dies zudem zu einer Zeit, in der das Land in einer Hungersnot zu versinken droht. In Afghanistan hat die Maßnahme umgehend breite Protestdemonstrationen ausgelöst; der einstige afghanische Präsident Hamid Karzai hat sie „ungerecht und unfair und eine Gräueltat gegen die afghanische Bevölkerung“ genannt. Wie Shah Merabi, ein Vorstandsmitglied der afghanischen Zentralbank und Professor für Wirtschaftswissenschaft am Montgomery College im US-Bundesstaat Maryland, berichtet, stufen zahlreiche Afghanen den Schritt als ordinären „Diebstahl“ ein; manche kritisieren die Vereinigten Staaten inzwischen völlig offen als „Kolonialmacht“, die „Diktate“ oktroyiert und darüber hinaus „die Rücklagen der Bevölkerung stiehlt“.
Die UAI hat in der vergangenen Woche eine Kampagne gestartet, die das Ziel verfolgt, die Freigabe der Reserven der afghanischen Zentralbank zu erreichen – ein Schritt, der die westlichen Regierungen wenig kosten würde, für die afghanische Bevölkerung jedoch eine große Erleichterung wäre, weil er als Voraussetzung für den Wiederaufbau der afghanischen Wirtschaft gilt. Die Kampagne richtet sich ausdrücklich nicht nur an die US-Regierung, sondern, weil ein Teil der afghanischen Zentralbankreserven in Deutschland liegt, auch an Bundeskanzler Olaf Scholz. Wie es in einem Offenen Brief an Scholz heißt, den die UAI in der vergangenen Woche veröffentlicht hat, sind UN-Angaben zufolge „8,7 Millionen verarmte afghanische Bürger vom Hungertod bedroht; einer Million Kindern droht in diesem Winter der Tod“. Schiere Not treibe verzweifelte afghanische Familien inzwischen dazu, ihre Kinder, die sie nicht mehr ernähren können, „im Tausch gegen Lebensmittel“ zu verkaufen. Die UAI und diverse prominente Unterzeichner fordern Scholz auf: „Erlauben Sie der DAB, einer unabhängigen, erfahrenen und glaubwürdigen Zentralbank, Mittel aus den nationalen Reserven Afghanistans abzurufen, die bei Banken in Deutschland gehalten werden.“ Berlin ist der Forderung bislang nicht gefolgt.