Robert Hültner: Lazare und der tote Mann am Strand. btb, München. 384 S., 20 Euro
Narciso Lazare ist ein Montpellierain, ein Stadtmensch durch und durch. Sein derzeitiger Aufenthalt in den Bergen der südlichen Cevennen ist seiner Trägheit und mangelnden Geistesgegenwart geschuldet. Nun hat er den halb verfallenen Hof seiner verstorbenen Mutter am Hals. Mitsamt seinem Onkel Siset, 88, immer schrulliger, manchmal aggressiv. Für Lazare war er ein Held. Mit Geschichten über seine Zeit als Botenjunge für die Genossen im Kampf gegen Franco hat er Lazares Kindheit mit spannenden Abenteuern bereichert. Jetzt aber ist er froh, von einem Anruf nach Sète gerufen zu werden. Dort liegt ein Toter am Strand. Das ist zwar nicht mehr sein Revier, doch er hat Gründe sich dort etwas intensiver umzusehen. Die Kollegen in Sète sind nicht gerade begeistert, für einen derart banalen Fall einen aus Montpellier vor die Nase gesetzt zu bekommen. Besonders Kripoleiter Danard fühlt sich düpiert. Sein Unmut hat andere Ursachen.
Der Tote ist ein Gitan. Sinti, Roma und Jenische werden in Südfrankreich so genannt. Unter der Kollaborationsregierung von Vichy waren sie verfolgt und interniert worden. Niemals entschädigt, siedeln einige seit Jahren auf einem brachliegenden Gelände in Sète. Bisher gab es nur die üblichen Spannungen zwischen ihnen und den anderen Bewohnern. Seit dem Erstarken neofaschistischer Tendenzen und dem Auftauchen eines Investors für das Gelände spitzt sich die Situation zu. Hier setzt Lazare an. Im Zuge der Ermittlungen treten auf: Daniel Rossbach, deutscher Neonazi, zwei LKA-Leute, die ihn wegen Polizistenmords nach Deutschland überführen sollen, Charles Laforet und weitere dubiose Geschäftsmänner, der Küchenjunge Rico und der Ex-Leiter des Kommissariats in Sète und Freund von Lazare, Jean Castro.
Etwa zur gleichen Zeit birgt Georges Jeanjean, Leiter der Gendarmerie in der Gegend von Lazares Haus, die Leiche eines alten Bergbauern. Todesursache ist ein Stromschlag vom Weidezaun seines Freunds und Nachbarn Emile Praden. Die Kripo von Montpellier wird hinzugezogen, hält Praden für den Täter, verhaftet ihn. Jeanjean ist ebenso sicher, dass es Praden nicht gewesen sein kann und ermittelt weiter. Ein Brand, ausgelöst durch eine manipulierte Gasleitung, verstärkt seinen Eindruck noch. Das Haus gehörte einem Neo, einem der neuen Landwirte, die seit den 70er Jahren dort siedeln und alternativen Landbau betreiben. Eigentlich sind sie gut integriert, aber auch hier wirken seit kurzem die gleichen Kräfte wie an der Küste. Hier wie dort ist ein Hotelprojekt mit dem gleichen Geld geplant.
Eine Strategie bei der Arbeit der Kripo lautet: Folge der Spur des Geldes. Eine Erkenntnis von Krimilesern: Es geht immer um Liebe und Tod. Robert Hültner geht es um mehr. Um die Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen durch Spekulanten und deren Handlanger. Um die, die in deren Fahrwasser Kasse machen wollen. Um alte und neue Faschisten und ihre länderübergreifenden Netzwerke, die weit in die französisch-deutsche Geschichte hineinreichen. Fein miteinander verwoben entwickelt Hültner ein Bild von erheblicher Tiefenschärfe. Er beobachtet den Alltag der Menschen. Deshalb sind seine Figuren lebendig und agieren vollkommen authentisch.
Auf den neuen Krimi von Robert Hültner habe ich mich gefreut. Schließlich ist er einer der besten deutschen Autoren des Genres. Der Titel aber „Lazare und der Mann am Strand“ klang ein wenig abschreckend. Seit einigen Jahren geht der Trend zu Tatorten in Frankreich. Allesamt aus der Feder von sich berufen fühlenden Mitarbeitern deutscher Verlage, deren bevorzugtes Urlaubsziel zum Schauplatzim Mainstream-Krimi wird. Pittoreske Bergdörfer, traumhafte Strände, regionale Küche (Rezepte inbegriffen), Liebe und Tod, wahlweise Umweltsünden oder Korruption im Bauwesen. Etwas in der Art. Kann das sein? Doch nicht bei Robert Hültner! Der uns Inspektor Kajetan geschenkt hat. Unbeugsamer, unbestechlicher und unaufhaltsamer Ermittler in Bayern von der Räterepublik bis zum beginnenden Faschismus. Der uns die Mechanismen dieses Weges erzählt hat. In spannenden, oft wahren Geschichten. Nein, Hültner hat sich nicht geändert. Gewohnt stilsicher benutzt er sehr unterschiedliche Verbrechen, um den Zustand der kapitalistischen Weltordnung aufzuzeigen. Das ist keine Lektüre zum wegschmökern. Es bedarf einiger Konzentration, den verschiedenen Strängen zu folgen, die vielen Fäden im Auge zu behalten, das umfangreich eingesetzte Personal zu beobachten. Spannend ist es dennoch. Mehr davon.