Mir kam nach dem Ende des ersten Weltkrieges, den ich als Schulkind in einer rheinischen Stadt erlebte, der Roman „Das Feuer“ von Henri Barbusse in die Hände. Ein Friedenskämpfer – so würde man heute diesen französischen Schriftsteller nennen. Nicht nur sein Name, sein ganzes Leben war mit dem Kampf der Völker für Frieden und Freiheit verbunden. Darum lasen wir jungen Studenten, die die gleichen Gedanken beherrschten, einige Jahre später mit gespannter Aufmerksamkeit einen Artikel in einer deutschen Zeitung, unter dem sein verehrter Name stand. Wir waren aber erstaunt, ja bestürzt durch das, was wir lasen. Ich kann mich noch ungefähr an einige Zeilen erinnern, die uns damals bestürzten: Viel Leid haben die Intellektuellen verschuldet. Oft genug haben sie die Festung ihres Glaubens verraten. Flecke aller Art beschmutzen ihr grandioses Werk.
Was meinte Barbusse mit diesen Worten? So fragten wir uns.
Wir waren alle aufgewühlt von den Ereignissen unserer Zeit. Die junge Oktoberrevolution und was ihr gefolgt war, in Deutschland selbst, in Ungarn, in Oberitalien, in vielen anderen Nationen, das alles griff in unser Dasein ein, bei dem einen tief, bei dem anderen ruckhaft. Und während wir daran teilnahmen, leidenschaftlich diskutierend, folgten wir unserem Studium. Wir liebten Kunst und Wissenschaft. Wir gaben Barbusse in einem recht: unser Wissen war für uns eine Festung. – Warum aber hätten wir sie verraten sollen? Wie sollte das möglich sein? Sind nicht die großen Werke, die Menschen vollbracht haben und vollbringen werden, jedes Verrats enthoben? Sind sie nicht gerade die uneinnehmbare Festung, in der die Menschheit ihr teuerstes Gut verwahrt, was für Ereignisse ihr die Geschichte auch bringt? Wir wollten bald mit daran bauen. Wie könnten wir sie dann je mit Flecken beschmutzen? Warum und wozu?
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Der zweite Weltkrieg und sein faschistisches Vorspiel hat nicht nur grandiose Werke, nachdem sie verleumdet, bespieen, beschmutzt worden sind, in Schutt und Asche verwandelt, der Weltkrieg hat auch mit den Millionen junger Leben, die er vernichtete, grandiose Werke der Zukunft vernichtet, die der Stolz unseres Volkes, der Stolz aller Völker gewesen wären.
Was taten die jungen Leute, die als Studenten über die schroffen Worte des Dichters gestaunt hatten, als Hitler zehn, zwölf Jahre später in unseren Städten die besten deutschen Bücher verbrannte? Als ihnen danach die Hitlerjugend ihre Kinder entwendete? Als Herz und Verstand, als tausend Vorzeichen sie in jeder Minute vor Krieg und Untergang warnten?
Wir wissen am besten: Es hat in jeder deutschen Stadt Intellektuelle gegeben, die, um die Worte von Barbusse zu gebrauchen, niemals „ein Leid verschuldeten“. Wir wissen, sie gaben ihr Leben dahin, damit das grandiose Werk der Menschheit unversehrt bleibe. Wir vergessen nie die Geschwister Scholl, Ossietzky, Harnack, zahlreiche andere, die in der Wissenschaft einen Namen hatten, nie die, die unbekannt in einer Schulklasse unterrichteten oder in einem Laboratorium arbeiteten, treu ihren Ideen für Demokratie und Frieden, bis die nazistischen Banditen sie von ihren Arbeitsplätzen rissen und ins Konzentrationslager oder auf den Richtplatz schleppten. Wir wissen aber auch, dass ihre Zahl, was für Gewicht sie auch in unserem Andenken hat, zu klein und isoliert blieb, um das Unglück zu bremsen, das durch den Faschismus über die Menschen gekommen ist.
Das darf sich nie mehr wiederholen. Die deutschen Wissenschaftler und Künstler, die Ärzte und Lehrer müssen gerüstet sein, sie müssen dastehen wie ein Mann, um ihre Festung zu schützen.
Vor ungefähr zwei Jahren sprach ich hier in demselben Raum zu den Studenten über die Schriftsteller im Friedenskampf. Ich versuchte an den Beispielen deutscher und französischer, sowjetischer und amerikanischer Dichter, die zu unserer Friedensfront gehören, klarzumachen, warum ihr Werk einem Friedenskongress für sich gleicht. Denn in ihren Büchern wird das Leben so komprimiert dargestellt, so gründlich, so sichtbar werden darin alle gesellschaftlichen Fragen aufgerollt, dass auch der Leser, wenn er niemals seine Stadt verlässt, die Kämpfe der Zeit, die Kämpfe der Völker und Klassen in solchen Büchern miterlebt.
Damals stand hier ein junger Student auf und erklärte, warum er dem Werk der Künstler misstraut. Mit einer Offenheit, die ihm Ehre gemacht hat, beschrieb er, wie er nach dem zweiten Weltkrieg verzweifelt, verwundet und verwirrt in diese zertrümmerte Stadt zurückgekehrt war.
Zertrümmert sei alles gewesen, wovon er früher geglaubt hatte, dass es für ewig bestände. Mit großer Leidenschaft hätte er alle seine Gefühle als Junge ausgegeben. Und seine Gefühle seien betrogen worden. Von jetzt ab, so sagte er, baue er nie mehr auf Gefühle. Ja er sei misstrauisch gegen sich selbst, wenn ein Theaterstück oder ein Bild oder ein Buch seine Gefühle aufwühlt. Allein durch seinen Verstand, durch logische Überzeugung habe er seinen Irrtum begriffen. Er richte sich deshalb von jetzt ab nur nach seinem Verstand.
Ich weiß nicht, ob unser Freund auch heute hier unter uns sitzt. Er hat wahrscheinlich begriffen, dass dieser furchtbare Bruch in seinem Innern – denn furchtbar ist immer in einem Menschen jede Art Bruch zwischen Verstand und Gefühl – vom Faschismus verschuldet war wie alle Verwüstungen des Krieges. Hitler hat im Auftrag seiner Clique, um ihre Profitgier und ihre Angriffslust zu befriedigen, in einem fort solche Gefühle aufgeputscht, die keinem logischen Denken standhalten konnten, und er hat die Gefühle ausgelöscht, die mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmten. Er hat das Gewissen der Menschen abgestumpft oder zum Schweigen gebracht.
Joliot-Curie, der große Gelehrte, sagte hier in Berlin im Frühjahr bei der Vorbereitung des Völkerkongresses: „In dem Wettlauf zwischen Krieg und Frieden muss es uns gelingen, das Weltgewissen zu erwecken, und der Friede wird siegen!“
Was bedeutet das Wort „Weltgewissen“, das der Wissenschaftler gebrauchte? Ist es nur ein vager Begriff, der an die Gefühle appelliert? Ich denke, es ist durch unsere Friedensbewegung ein äußerst klarer, äußerst genauer Begriff geworden. Was ist denn das, Weltgewissen? Es ist die Summe der Gewissen aller Völker.
Als wir beim Stockholmer Appell Unterschriften zum Verbot der Atomwaffe sammelten, begriffen zum ersten Mal fünfhundert Millionen Menschen, dass auf dem Erdball etwas geschieht, was von dem Willen seiner Bewohner abhängt. Auch wenn es in Mitteleuropa oder in Afrika, in Alaska oder im Feuerland zahlreiche Menschen gegeben hat, zu denen der Wortlaut des Appells nicht gedrungen ist – ein großer Teil der Menschheit erfuhr auf Umwegen trotzdem, was wir damals lasen und unterschrieben. Von einer Wohnstätte zur anderen, ob sie in einem Mietshaus war oder in einer Jurte, von einer Arbeitsstätte zur anderen, ob sie in einer Fabrik in Chicago war oder auf einem Acker in Brandenburg, drang etwas von dem, was Joliot auf dem ersten, dem Pariser Friedenskongress erklärt hat: Die neue Entdeckung, Atomenergie, ist an Bedeutung und Macht der uralten Entdeckung zu vergleichen, die Urmenschen vor Zehntausenden Jahren machten, der Entdeckung des Feuers. In abgelegenen, voneinander getrennten Höhlen entstanden die ersten Feuer. Zum Guten oder zum Bösen verwertbar. Auch heute ist die Atomenergie zum Guten oder zum Bösen verwertbar. Man kann damit Städte zerstören wie Hiroshima, man kann damit Ströme versetzen wie in der Sowjetunion und Wüsten zu Ackerland machen. Das hängt vom Willen der Menschen ab.
Als dieser Gedanke in den Völkern Fuß zu fassen begann und diese Gefühle erwachten, war damit bereits am Weltgewissen gerüttelt. Die Menschen verstanden rascher und rascher, dass nicht nur die Anwendung einer furchtbaren Waffe, sondern der Krieg selbst von ihrem Willen abhängt. Hundert Millionen Menschen mehr beantworteten den Aufruf zum Pakt der fünf Großmächte, den der zweite Friedenskongress in Warschau herausbrachte. Jetzt rüsten sich mehr als zwei Drittel der Menschheit zu dem Völkerkongress in Wien. Wenn dieser Kongress auch nicht denkbar wäre ohne unsere machtvolle Friedensbewegung, ohne die beiden vorangegangenen Kongresse, so wird er doch etwas von Grund auf anderes sein. Er wird nicht nur die Menschen versammeln, die bereits Delegierte zu den beiden ersten Kongressen schickten – wir staunten über ihre wachsende Breite und Vielfalt –, er schafft auch denen Gehör, die bisher abseits gestanden haben oder auch jetzt nur bei einzelnen Argumenten aufhorchen oder nicht in allen Teilfragen mit uns übereinstimmen. Der Wille zum Frieden, das ist das Gemeinsame, und jeder Vorschlag wird ein Stein in der Mauer sein, die wir vor den Kriegstreibern aufpflanzen werden.
Denn es gibt heute keinen Menschen, zu welcher Nation, Religion, Partei er gehören mag, der nicht in seinem inneren und äußeren Leben durch ein und dieselbe Drohung gequält wird. Die Handvoll Kriegstreiber hat die Ruhe jedes Lebens und jeder Arbeit zerstört. Sie drückt in den kapitalistischen Ländern auf das Lebensniveau durch ungeheure Rüstungen. Rechnet euch aus, was dort den Menschen in dieser und jener Form abgezapft werden muss, wenn mehr als zehn Milliarden von Krediten nötig waren zur Umstellung und zum Anlauf der Montanunion, die Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Luxemburg und Westdeutschland umfasst, um Stahl für Tanks und Kanonen herzustellen. Mehr als viermal soviel Dollars, als es Menschen auf dieser Erde gibt. Stellt euch diese Summe zum Aufbau verwandt vor, zu Brot, zu Schulen, zu Krankenhäusern.
Um diese grob-einfache Milliardenrechnung in den Gehirnen zu verwirren, ist eine ungeheure Investition von Lügen nötig. Eine wahre Gespensterfabrikation von Lügenschleiern. Die Kriegstreiber lassen kein Mittel unversucht, um aufrechte patriotische Menschen, die da eindringen wollen, fortzuscheuchen. Von Kugeln, wie eine den Philipp Müller in Essen traf, bis zu den raffiniertesten Lügengeweben.
Kultur und Wissenschaft ist für die Milliardenbankiers eine Ware. Sie wird nach Preis gekauft, den Nutzen und Mode festlegt. Sie wollen die Welt in die Zange nehmen, um ein riesiges Stück für ihren Profit zu ergattern. Die Punkte, an denen sie die Zange angesetzt haben, liegen in Westdeutschland und in Ostasien. Sie haben das Erbe Hitlers in Westdeutschland angetreten und dort das Erbe des vergotteten Kaisers und seiner vergotteten Konzerne.
(…)
Ihr Freunde, bestürmt die Menschen, die immer noch zögern und schweigen. Fragt sie, wie sie es ertragen können, dass man euch dort drüben verleumdet, eure Arbeit, eure Zukunft, euer Aufbauwerk. Stellt euch diesen Menschen dar, wie ihr seid, eure Hoffnungen, eure Arbeitspläne. Denn sie kennen euch nicht. Wenn sie euch begriffen hätten, dann könnten sie selbst ihr eigenes Schweigen nicht länger ertragen. Wir sind mit daran schuld, wenn sie uns noch nicht begreifen, weil wir es noch nicht verstanden, die Hindernisse von Unwissenheit, von Zweifel und Angst hinwegzuräumen von den Wegen zu unserem gemeinsamen Ziel. Seid mit den Menschen geduldig, die noch nicht verstehen und kennen, was ihr kennt und versteht. (…)
Wer noch aus Existenzangst schweigt oder vor sich selbst einen Grund zum Schweigen erfindet, weil er dieses und jenes noch nicht versteht, mit dem müssen wir geduldig sprechen, ihm helfen, den richtigen Weg zu finden und anzutreten. Wir müssen auf seine Zweifel und seine Fragen eingehen, denn jede unbeantwortete Frage gleicht einer Bresche, durch die der Feind eindringen kann.
Wer aber unsere Festung verrät, wer entsetzliches Leid mitverschuldet, auf dessen Werk bleibt, wie glänzend es auch erscheinen mag, ein Flecken haften. Der soll das Beispiel Knut Hamsuns nicht vergessen, des norwegischen Schriftstellers, der unter der Nazibesatzung zum Quisling wurde. Seine Landsleute warfen ihm all seine Bücher, die sie vorher mühsam erspart hatten, in seinen Garten zurück.
Ricarda Huch hat folgende Verse Manzonis ins Deutsche übersetzt:
Wehe dem, der die Fahne verkannte,
der, wenn Leiden und Opfer vorbei
und die Fackel des Sieges entbrannte,
sich verhüllt: ich war nicht mit dabei.
Wir aber, wir sind dabei.
Ein alter sowjetischer Freund sagte vor mehr als dreißig Jahren zu einer Gruppe Verfolgter, die den Boden der jungen Sowjetunion betrat: „Was wir auch durchgemacht haben, wir sind die erste Generation, die Zeuge der großen Veränderung war.“
Ihr sollt einmal euren eigenen Kindern erzählen, dass ihr dabei wart, wie in dem von Krieg und Faschismus gänzlich zertrümmerten Land der Friede endgültig den Krieg besiegt hat.
Erstveröffentlichung in „Tägliche Rundschau“, 16. Dezember 1952