Neue US-Sicherheitsstrategie erneuert Anspruch auf Weltherrschaft

Die „unverzichtbare Nation“

Die Biden-Regierung hat eine neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ (NSS 2022) herausgebracht – angesichts des hybriden Krieges von USA und EU gegen Russland und der US-„Aktivitäten“ zur Verschärfung des Taiwan-Konflikts ein wichtiges Dokument. Der seit mehr als einem Jahrzehnt vorbereitete Ukraine-Konflikt beginnt sich gerade zu einem massiven Desaster für den „kollektiven Westen“ zu entwickeln – trotz zig Milliarden schwerer finanzieller, militärischer, geheimdienstlicher und propagandistischer Unterstützung des gesamten NATO-Westens. Was wäre bei einer militärischen Eskalation um Taiwan zu erwarten?

Ignoriert man einmal den Wust an imperialem Neusprech, der Dokumente wie die zur NSS 2022 auszeichnet und der aus einer Zeit zu stammen scheint, als das Wünschen noch geholfen hat, so zeigt sich, dass sich an der religiös-kulturalistischen Vorstellung einer unverzichtbaren US-amerikanischen Führungsnation nichts geändert hat. Nur unter der Führung der USA sind Freiheit, Demokratie, Prosperität und Sicherung der Menschenrechte gegen die Herausforderung durch „autoritäre Mächte“ möglich, kann die Welt einen „helleren und hoffnungsvolleren Morgen“ erleben. Allerdings wurde die ideologische Verbrämung des imperialen Herrschaftsanspruchs in den letzten Jahrzehnten immer fadenscheiniger. Nebenbei bemerkt: Die im Rahmen des vor einigen Tagen zu Ende gegangenen 20. Parteitags der KP Chinas von Generalsekretär Xi Jinping vorgetragene Konzeption einer „friedlichen Modernisierung“ stellt gewissermaßen das programmatische Gegenkonzept zu Joseph Bidens NSS 2022 dar: infrastrukturelle Durchdringung und Industrialisierung ganzer Kontinente, Schaffung von Win-win-Situationen, pragmatische Kooperation ohne Vormachtanspruch, gegen Kriegs- und Sanktionspolitik, Erpressung, Wirtschaftskrieg und offenen Raub – für die meisten Staaten des globalen Südens eine klare Sache.

Die NSS 2022 definiert die Dekade 2020 bis 2030 als die entscheidende, um „Amerikas“ (die imperiale Ideologie erhebt immer Anspruch auf den ganzen Kontinent) „vitale Interessen voranzubringen“ und die „geopolitischen Wettbewerber“ „auszumanövrieren“. Gemeint sind natürlich Russland und China. Russland stelle zwar eine „unmittelbare Bedrohung“ für das „freie und offene internationale System“ dar, was „der brutale Angriffskrieg in der Ukraine“ belege. Die Volksrepublik dagegen sei „der einzige Wettbewerber mit der Absicht, die internationale Ordnung umzugestalten und zunehmend mit der ökonomischen, diplomatischen, militärischen und technologischen Macht mit diesem Vorhaben voranzukommen“. Diese unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten induzieren auch unterschiedliche Vorgehensweisen. Während China „niederkonkurriert“ werden müsse, solle Russland „eingeschränkt“ werden. US-Kriegsminister Lloyd Austin hatte bereits die „Schwächung Russlands“ als Ziel des Ukraine-Konflikts benannt. Den Versuch, China mit einem massiven Wirtschaftskrieg „niederzukonkurrieren“, hatte ja schon Donald Trump gestartet. Ob Biden mehr Erfolg haben wird als Trump, ist zumindest zweifelhaft. Dagegen stehen die Chancen, die Deindustrialisierung Europas zumindest in eine Teil-Reindustrialisierung der USA zu überführen, gar nicht schlecht.

Im Abschnitt „Investieren in unsere Stärke“ wird das Ziel formuliert, die industrielle und technologische Stärke, die Ausbildung und den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung sowie die US-dominierten Bündnissysteme zu stärken und zu verbessern. In der Tat, nur so könnten die USA eine gewisse Attraktivität zurückgewinnen. Allerdings ist der strukturelle Verfall des Imperiums und seiner Bündnisstrukturen kein Zufall. Zwar werden neue US-dominierte Investitionsvorhaben wie das „Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity“ (IPEF) oder die „Partnership for Global Infrastructure and Investment“ (PGII) zitiert, wie viel damit tatsächlich bewegt werden kann und wie sich das im Verhältnis zu den billionenschweren BRI-Projekten, ausnimmt, steht auf einem anderen Blatt.

Mit der Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg waren die US-Neocons zur dominanten ideologischen Führungsmacht in Washington aufgestiegen. Sie hatten ein „Neues Amerikanisches Jahrhundert“ zum großen Ziel der US-Strategie ausgerufen, wofür sie selbst atomare Präventivangriffe gerechtfertigt hielten (und noch halten). Von diesem „Neuen Amerikanischen Jahrhundert“ sind wir weiter entfernt denn je. Wenn wir nicht alle in der atomaren Katastrophe zugrunde gehen, wird dieses Jahrhundert – nach allem, was bislang erkennbar ist – ein multipolares Jahrhundert mit starker asiatisch-industrieller Prägung und dem Aufstieg eines selbstbewussteren globalen Südens sein. Daran wird auch die NSS 2022 nichts ändern.

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"Die „unverzichtbare Nation“", UZ vom 28. Oktober 2022



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