Bei der Syrienkonferenz in Istanbul herrschte „Uneinigkeit“

Die Untertreibung des Jahres

Von Manfred Ziegler

Merkel, Macron, Putin und Erdogan trafen sich am 27. Oktober in Istanbul, um einer politischen Lösung im Krieg gegen Syrien neuen Schub zu verleihen. Sie hielten sich beim Fototermin an den Händen, um ihre Einigkeit zu demonstrieren: Erhaltung der territorialen Integrität Syriens, Waffenstillstand in Idlib, Beginn der Arbeit an der neuen Verfassung, Kampf gegen den Terrorismus. Alle wollten eine politische Lösung – doch wie der Sprecher des Kreml, Dmitri Peskow, es formulierte: Es herrschte Uneinigkeit über den Weg dorthin. Und das war die Untertreibung des Jahres.

Für Merkel und Macron bedeutet eine politische Lösung nach wie vor eine grundsätzlich andere Politik Syriens – die Abkehr vom Iran und von Hisbollah.

Die Sanktionen, die Kontrolle des Nordostens des Landes durch die „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) und ihre verbündeten US-Streitkräfte, die US-Kontrolle über al-Tanf und die türkische Kontrolle über Idlib – das alles soll die syrische Regierung schwächen und zerstört die territoriale Integrität Syriens, die nur auf dem Papier immer wieder gefordert wird.

Und der Kampf gegen den Terrorismus? Für die Terroristen in Idlib gilt der Waffenstillstand unter der Schutzmacht Türkei. Unterdessen kämpft die türkische Armee gegen die kurdischen Streitkräfte, die sie ihrerseits als Terroristen brandmarkt. So wie es Erdogan auf dem Gipfeltreffen getan hatte, als er den Islamischen Staat und die „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) gleichsetzte. Trotz der schwachen türkischen Währung und Wirtschaft und trotz abnehmender Popularität von Erdogan ist die Zusammenarbeit mit der Türkei für alle Seiten unverzichtbar. Die USA benötigen die Türkei als NATO-Partner und die russische Regierung braucht die Unterstützung der Türkei für die Stabilisierung Syriens.

Zwei Tage vor dem Vierer-Gipfel arbeitete Wirtschaftsminister Altmeier an einer Verbesserung der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Denn nicht nur die Türkei benötigt gute Handelsbeziehungen zu Deutschland, sondern auch umgekehrt. Noch immer gilt vielen die Türkei als der potentieller Wachstumsmarkt der Zukunft und Hort der Stabilität. Und, wie Wirtschaftsminister Altmeier bei seinem Türkeibesuch erklärte: „Eine stabile Türkei ist die beste Voraussetzung für eine Verbesserung der Menschenrechtslage.“

So kann sich die Türkei vorerst erlauben, in der Deeskalationszone in Idlib nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Der Rückzug und die Entwaffnung der Dschihadisten lassen immer noch auf sich warten. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschinkow, betonte, dass die Türkei trotz einiger Anstrengungen ihrer Verantwortung zur Schaffung einer entmilitarisierten Zone in Idlib letztlich nicht gerecht geworden wäre.

Stattdessen griff die türkische Armee kurdische Dörfer im Norden Syriens an und weitere Angriffe der Türkei östlich des Euphrat sind durchaus möglich. Die Öl- und Gasfelder im Nordosten Syriens sind nicht nur für die SDF und die USA ein verlockendes Ziel. Vor Abgeordneten der AKP erklärte Erdogan, die Türkei werde die terroristischen Strukturen – so nennt er die Strukturen der SDF – östlich des Euphrat zerstören, die Vorbereitungen dazu seien schon getroffen.

Entgegen der behaupteten Einigkeit von Istanbul zerstören die USA und ihre Verbündeten weiterhin die territoriale Integrität Syriens. Und auch das Verfassungskomitee, das zu Beginn des Jahres auf einer Konferenz in Sotschi gebildet wurde, ist den unterschiedlichen Interessen der internationalen Akteure verpflichtet. Internationale Anerkennung (des Westens) gibt es nur bei einem Politikwechsel.

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"Die Untertreibung des Jahres", UZ vom 9. November 2018



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