Michael Sollorz’ Roman „Zeit der Kräne“

Die Umarmung als Gegenteil der Resignation

Kunst und Pornografie sind nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden. Das liegt an den offenen Grenzen, die Kunst notwendigerweise hat, auch zu anderen Bereichen wie Politik und Wissenschaft. Derweil ist Pornografie klarer abgesteckt, als sexuelle Stimulanz mittels Darstellung, ob nun durch Bild, Ton oder Text – und zumindest der geruchshypersensible Jean-Baptiste Grenouille aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“ bittet, die olfaktorische Erregungserzeugung nicht zu diskriminieren.

Erregung, auch die sexuelle, ist ein Kampfstoff der Kunst: Dietmar Daths für 2024 vom Berliner Verbrecher-Verlag als Neuauflage angekündigter Großroman „Für immer in Honig“ (2005) ist voll der auserzählten und merklich vom Schmuddelfilmkonsum inspirierten Sexakte. Besucht man das Museo Nacional de Bellas Artes in der kubanischen Kapitale Havanna, dann finden sich in einem Land, in dem aus der Landesgeschichte und ihrer entsprechenden politischen Ableitungen heraus jegliche Pornografie sowie Prostitution verboten sind, zahlreiche staatlich ausgestellte Gemälde mit mehr oder minder sexualisiertem Inhalt, ganz ohne schwarze Balken. Sex kann und wird nicht aus der Welt geworfen werden.

Michael Sollorz geht als Autor offensiv damit um, dass Prosa und Porno sich berühren und miteinander ins Bett können. 1962 in der Hauptstadt der DDR geboren, schreibt der gelernte Dachdecker nebst zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays, Hörspielen und dem kurz vor ihrer endgültigen Abwicklung von der DEFA verfilmten Drehbuch „Banale Tage“ (1990/1992) erotische Literatur unter dem Pseudonym Fabian Kaden.

5011 Sollorz Zeit der Kraene 300 dpi 1920x1920 - Die Umarmung als Gegenteil der Resignation - Michael Sollorz, Quintus Verlag, Zeit der Kräne - Kultur

Mit „Zeit der Kräne“ ist nun ein Roman unter Realname erschienen, der der Libido viel Platz einräumt – mehr Wohnraum als Berlin zu bieten hat. Aus der Stadt mit den unbezahlbaren Mieten ist Sollorz 2022 mit seinem Lebenspartner in Richtung Brandenburger Peripherie geflohen. Das Personal seines Romans derweil bewohnt noch die Metropole, weil sie sich, wie Paul, mit einer kleinen Bleibe in einem nicht angesagten Randbezirk zufrieden geben, oder, wie die Halbgeschwister Marie und Jerome, einen Diplomaten und Immobilienbesitzer zum Vater haben. Klar, auch Paul hat seine Wünsche, Altbau und Dielen zieht er eigentlich der Platte vor; liebt er doch Älteres und Ältere: Als Dachdecker hilft er dabei, dass die Stadt nicht gar zu schnell einstürzt und als emsiger Liebhaber passt die Chemie am besten zwischen dem 22-Jährigen und Frauen, die ein paar Mal öfter um die Sonne gekreist sind. So auch die Linke Marie, die von ihrer zweiten Dissertation nur dann aufschaut, wenn es darum geht, die Laken zu verwuscheln. „Eine von Ehrgeiz zerfressene Nymphomanin, die ihre innere Armut in eine verlogene Gutmenschen-Karriere umzumodeln versucht“, wie Jerome ihr, laut Marie, an den Kopf wirft, und die sich wiederum revanchiert: „Nichts, gar nichts bedeutet ihm irgendetwas. Mein Bruder verbrennt.“

Ergänzt wird die Palette der mit der Welt Hadernden durch Nelly, der der Veränderungswille wie bei der systemischen Entristin Marie zwar auch im Kopf, ganz gehörig aber auch im Bauch steckt, ihr den Magen verdirbt und sie innerlich auffrisst. Paul – der berlinerisch-herzliche und nichtakademisch-pragmatische Plebejer – fremdelt am stärksten mit der Puristin, fragt sich, politisch höchstens viertelkorrekt, ob ihre schlechte Laune Symptome von Menstruation oder Schwangerschaft sei und denkt, wenn Nelly ihm den Platz in Maries Bett zuparkt, an sie auch mal als „Schlampe“. Sollorz wird nicht müde, den Hinweis zu verteilen, dass da keinerlei Sympathie zwischen der radikalen Mietaktivistin und dem Malocher mit strammen Lenden herrscht. Nach einem Schockmoment nimmt aber auch Paul den Kampf gegen die Vermieterkonzerne auf und schließt sich der „Brigade Adolf Damaschke“ an, benannt nach dem christlichen Bodenreformer zu Berlin (1865 bis 1935).

Sozialrealistisch gebaut, spiegeln Sollorz’ Figuren je ihren Umgang mit den Widersprüchen der nur schlecht beleb-, aber veränderbaren Welt wider: Sie antworten auf die Welt mit Bescheidenheit (Paul), Exzess (Jerome), dem Kampf zur Überwindung der Ordnung mit (Marie) und gegen deren Regeln (Nelly). Das ergibt je zwei Schattierungen zweier Farben, dem Anstrich der Anpassung und dem der Verzweiflung. Das Weder-noch, das Ronald M. Schernikau (1960 bis 1991), ein alter Schriftstellerkollege, Kommilitone am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und Freund von Sollorz, als notwendige Bedingung zur Aufhebung der Verhältnisse ansah, das fasst das Panoptikum nicht, auch wenn sich zeigt, dass die Angepassten nicht angepasst bleiben müssen, sie von den Verzweifelten an die Hand genommen nur nicht zum klügsten Widerstand bewegt werden können. Eine mittlere, mittelnde Figur hätte es bei der vielen Kuschelei sicher hübsch gehabt. Hierin aber gehen Sollorz und Schernikau einher: Wenn der Mensch sich umarmt, dann heißt das, er gibt sich nicht auf, wenn und gerade weil durch die zugige und arschteure Drecksbude der Wind pfeift.

Eine weitere Hauptfigur und gleichsam die Erzählinstanz umarmt „Zeit der Kräne“ väterlich: In Einschüben berichtet ein alternder Erotikliterat davon, wie er, des Betrugs überführt, im Kittchen Paul kennenlernt und sich von den Erlebnissen des Zellengenossen über die schwindenden Kräfte hinaus zu neuen Werken inspirieren lässt. Eine enge, die Wirbel zum Knacken bringende und damit chiropraktische Umarmung: Die Zwischensequenzen sind, dem Roman an sich entsprechend, ausschweifend und mit dem Wunsch nach Vollständigkeit erbracht, als fürchte der Erzähler die Lücke wie den einsamen Tod hinter Gittern. Umso liebevoller schließt er seine Arme um Paul.

Michael Sollorz
Zeit der Kräne
Quintus Verlag, 248 Seiten, 22 Euro

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"Die Umarmung als Gegenteil der Resignation", UZ vom 15. Dezember 2023



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