Mit diesem Beitrag starten wir die Serie „100 Jahre Sowjetunion“. In 14-tägigem Abstand führt uns der Autor durch die sieben Jahrzehnte währende Geschichte des ersten sozialistischen Staates. Teil 2 folgt in der Ausgabe vom 6. Januar 2023.
Nach der Gründung der UdSSR rückten die Fragen der praktischen Gestaltung der neuen, sozialistischen Gesellschaft in den Mittelpunkt der Tätigkeit der Partei. Wladimir Iljitsch Lenin hinterließ als Theoretiker und Praktiker ein großes Erbe, das weitreichende Impulse enthielt. Es gab aber kein fertiges Rezept.
Wichtige konzeptionelle Arbeiten und praktische Schritte wurden noch unter unmittelbarer Anleitung Lenins beschlossen und eingeleitet. Das Programm für den staatlichen Aufbau der UdSSR verabschiedete der XII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) – KPR (B) im April 1923. Der zweite Sowjetkongress der UdSSR bestätigte am 31. Januar 1924 die erste Verfassung der Union und vollendete den Prozess der Vereinigung des sowjetischen Vielvölkerstaates.
Parallel zum Aufbau des neuen Staates konzentrierte sich die Partei auf die Wiederherstellung und Entwicklung der Wirtschaft. Der XII. Parteitag erteilte in seinen Beschlüssen allen denjenigen eine Abfuhr, die die Neue Ökonomische Politik (NÖP) als Preisgabe des sozialistischen Aufbaus und Kapitulation der Sowjetmacht vor der Bourgeoisie verstehen wollten.
Abgelehnt wurde der Vorschlag der Trotzkisten, die lebenswichtige Betriebe der Industrie als Konzessionen an ausländisches Kapital vergeben wollten. Wirtschaftlich unrentable Großbetriebe sollten stillgelegt werden.
Neben ökonomischen Erwägungen spielten besonders zwei Aspekte eine Rolle. Erstens stellte der Parteitag unter anderem fest, dass die führende Rolle der Arbeiterklasse nur dann erhalten und gefestigt werden könne, wenn man die sozialistische Industrie entwickle. Zweitens beschloss er, „mit größter Aufmerksamkeit und Sorgfalt das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft zu wahren und weiterzuentwickeln“. Die Versorgung mit modernen Produktionsmitteln war dabei ein wichtiger Faktor.
Schon vor dem Parteitag waren Nikolai Iwanowitsch Bucharin und andere mit dem Vorschlag aufgetreten, das Außenhandelsmonopol zu liquidieren und es durch eine „Zollpolitik“ zu ersetzen. Der Parteitag bestätigte indes die Unantastbarkeit des Außenhandelsmonopols. Die Beachtung wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Aspekte war auch für andere Beschlüsse – zum Beispiel die Steuerpolitik gegenüber den Bauern – bestimmend.
Ende 1923 wurden auf diesem Weg beträchtliche wirtschaftliche Erfolge erzielt, aber die verschiedenen Krisen nicht vollständig überwunden. Die Anzahl der in der Großindustrie beschäftigten Arbeiter betrug 60 Prozent gegenüber dem Vorkriegsstand. In der Landwirtschaft wurden die Anbauflächen gegenüber dem Vorjahr um 18 Prozent vergrößert und der Anbau technischer Kulturen ausgedehnt. Trotz solcher Erfolge gab es aber in den Industriezentren der UdSSR Ende 1923 noch 1,5 Millionen Arbeitslose.
Diese Situation und der Tod Lenins am 21. Januar 1924 wurde von den Trotzkisten für den Versuch genutzt, die Leninsche Konzeption zu verdrängen. Lew Dawidowitsch Trotzki brachte zum Beispiel erneut seine Theorie der „permanenten Revolution“ ins Gespräch. In den Auseinandersetzungen stellte sich Josef Wissarionowitsch Stalin als Generalsekretär des ZK erfolgreich an die Spitze des politischen und ideologischen Kampfes gegen die Trotzkisten und andere Oppositionelle.
In den Jahren 1924 und 1925 errang die Sowjetunion bedeutende Erfolge bei der Wiederherstellung der Volkswirtschaft. Die Elektrifizierung machte entsprechend dem GOELRO-Plan große Fortschritte. Infolge des Aufschwungs und der verstärkten Produktion von Industriewaren und landwirtschaftlichen Erzeugnissen verbesserte sich auch die materielle und kulturelle Lage der Menschen in Stadt und Land.
Am Ende der Wiederherstellungsperiode festigten sich die Positionen des Sozialismus. Ende 1925 umfasste beispielsweise die staatliche und genossenschaftliche Industrie 81 Prozent der Betriebe. Die Partei stand vor der Aufgabe, grundsätzliche Positionen ihrer weiteren Politik zu entwickeln.
Der Standpunkt der Partei zur Frage des Aufbaus des Sozialismus wurde schon auf der XIV. Parteikonferenz der KPR (B), die Ende April 1925 stattfand, behandelt. Die Entschließung stellte fest: „Im Allgemeinen ist der Sieg des Sozialismus (nicht im Sinne des endgültigen Sieges) in einem Lande unbedingt möglich.“ Im Mittelpunkt der Parteiarbeit stehe die Aufgabe, die führende Rolle des Proletariats auf dem Lande und das Bündnis der Arbeiter und Bauern zu festigen.
Die Trotzkisten bezeichneten den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR offen als hoffnungslose Sache. Bucharin und seine Anhänger traten nicht offen gegen die Politik der Partei auf, propagierten aber schon vor der Parteikonferenz die Losung „Bereichert euch!“, was von der Partei mit der Begründung abgelehnt wurde, dass dies in der Praxis die allmähliche Umformung der Sowjetordnung in bürgerlichem Sinne bedeutet hätte.
Lew Borissowitsch Kamenew und Grigori Jewsejewitsch Sinowjew, wie Bucharin und Trotzki Gegner der Parteilinie, stimmten dieser auf der Konferenz zwar zu, bereiteten aber in Leningrad eine „neue Opposition“ gegen die Partei vor.
Der XIV. Parteitag (18. bis 31. Dezember 1925) wird auch „Parteitag der Industrialisierung“ genannt. Mit Bezug auf Lenin wurde die Notwendigkeit der sozialistischen Industrialisierung als Generallinie der Partei ausgerufen. Gegen diese Linie trat auf dem Parteitag die „neue Opposition“ auf. Ihre Vertreter leugneten die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR und begründeten dies mit deren Rückständigkeit und der Schwäche des sowjetischen Proletariats. Die Leninsche Position der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR nannten sie eine Theorie der „nationalen Beschränktheit“. Sie lehnten auch die Politik der Partei in der Bauernfrage ab, die auf ein enges Bündnis mit den Mittelbauern und die Verwirklichung des Genossenschaftsplans gerichtet war.
Demgegenüber stellte der Parteitag fest: „Auf dem Gebiet des ökonomischen Aufbaus geht der Parteitag davon aus, dass unser Land, das Land der Diktatur des Proletariats, ‚alles für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft Notwendige‘ (Lenin) besitzt. Der Parteitag ist der Auffassung, dass der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion die grundlegende Aufgabe unserer Partei ist.“
Darüber hinaus orientierte der Parteitag auf die allseitige Förderung des Sieges der sozialistischen Wirtschaft über das Privatkapital, die Festigung des Außenhandelsmonopols, die Erweiterung der sozialistischen Industrie und die Einbeziehung der großen Masse der Bauernwirtschaften in den Prozess des sozialistischen Aufbaus mithilfe der Genossenschaften.
Der Parteitag beschloss, den Namen der Partei in Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) – KPdSU (B) zu ändern.
Die Partei hatte die Vorhaben der Trotzkisten und der „neuen Opposition“ vereitelt. Nach der Wiederherstellung der Wirtschaft wurden in der UdSSR die sozialistische Rekonstruktion der Volkswirtschaft und der Aufbau der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus in Angriff genommen. Die sozialistische Kulturrevolution wurde zu einem zentralen Feld der Politik der Partei: Die Aufgaben reichten von der Beseitigung des Analphabetismus bis zur Entwicklung der Wissenschaft, von der Kunst und Kultur bis zum Gesundheitswesen.
Zu einer weiteren wichtigen Aufgabe wurde die Festigung der Sowjets. Es galt, die Überreste der Methoden des Kriegskommunismus in der Arbeit der Sowjets zu überwinden.
Der XV. Parteitag (Dezember 1927) konnte eine positive Bilanz im Bereich der Politik der sozialistischen Industrialisierung ziehen. Er kritisierte zugleich die unbefriedigenden Verhältnisse in der Landwirtschaft.
Der Parteitag verabschiedete die Direktiven zur Erstellung des ersten Fünfjahresplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR.
Nach der Behandlung der Fragen des sozialistischen Aufbaus ging der Parteitag zur Frage der Liquidierung des oppositionellen Blocks über. Er stellte fest, dass „die Opposition mit dem Leninismus ideologisch gebrochen hat, zu einer menschewistischen Gruppe entartet ist, den Weg der Kapitulation vor der internationalen und inneren Bourgeoisie beschritten und sich objektiv in ein Werkzeug dieser dritten Kraft gegen das Regime der proletarischen Diktatur verwandelt hat“. Die Meinungsunterschiede seien nicht mehr nur taktischer, sondern programmatischer Natur. Die Zugehörigkeit zur trotzkistischen Opposition und die Propagierung ihrer Ansichten waren unvereinbar mit dem Verbleib in der Partei.
Die deutsche Kommunistin Clara Zetkin, die die Entwicklung der UdSSR nicht nur von Deutschland aus, sondern auch als Mitglied der Kommunistischen Internationale erlebt hat, würdigte in einer ihrer letzten Reden in der Öffentlichkeit am 8. März 1933 die Oktoberrevolution und betonte zugleich die Bedeutung der Entwicklung seit 1917: „Keine Macht der Welt kann die unsterbliche Bedeutung des Sowjetstaates aus der Geschichte tilgen.“ Worte, die auch heute noch Gültigkeit haben sollten!