1,8 Millionen Lohnabhängigen wird immer noch der gesetzliche Mindestlohn vorenthalten. Diese erschreckenden Zahlen sind nicht das Ergebnis einer gewerkschaftlichen Untersuchung, sondern wird belegt von Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dem man nicht unbedingt eine besondere Nähe zur Arbeiterbewegung nachsagen kann. Dass fast zwei Millionen Beschäftigte immerhin fünf Jahre nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns selbigen nicht bekommen, hat die Ursache darin, dass die Kapitalseite zahlreiche Tricks anwendet, um ihn zu umgehen.
Insbesondere bei der Aufzeichnung und Einhaltung der Arbeitszeiten werden alle legalen und häufig auch illegalen Mittel eingesetzt, um die Betroffenen um ihren kargen Lohn zu betrügen. Schon unmittelbar nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns flatterten zahlreichen Personalabteilungen diverser Unternehmen Schreiben von Anwaltskanzleien und sogenannten „Wirtschaftsakademien“ auf den Tisch, in denen mit Formulierungen wie „Gestaltungsmöglichkeiten durch geschickte Rechtsanwendung“ oder „Ausnahme Zeitwertkonto“ für Seminare zur effektiven Umgehung des Mindestlohns geworben wurde.
Wer vor diesem Hintergrund nun hofft, dass der bürgerliche Staat und die Politik alles daran setzten, die Einhaltung des Mindestlohnes durchzusetzen, glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet. Im Gegenteil: Im Rahmen der von Teilen der Union und FDP losgetretenen Arbeitszeitdebatte sollen die jetzt schon unzureichenden Mindestlohnkontrollen weiter eingeschränkt werden. So soll nicht nur die tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit ausgeweitet werden. Die FDP-Fraktion liefert gleichzeitig mit einem aktuellen Antrag im Bundestag die Möglichkeiten, die anschließende Kontrolle der Arbeitszeit ad absurdum zu führen. Geht es nach der FDP, soll bei den ohnehin schon schwierig zu kontrollierenden Minijobs die Aufzeichnungspflicht der Unternehmer gleich ganz abgeschafft werden. Darüber hinaus soll es für die Beschäftigten in bestimmten Wirtschaftsbereichen zukünftig ausreichen, wenn die Kapitalseite die Arbeitszeit im Rahmen der Lohnbuchhaltung monatlich dokumentiert.
Angesichts der rasant steigenden Zahlen an Gesetzesverstößen im Niedriglohnsektor ist der FDP-Vorstoß ein Hohn gegenüber den Kollegen, die von ihrem Gehalt schon jetzt kaum leben können. Man kann sicher darüber streiten, ob die Vorschläge der FDP von der aktuellen Regierung umgesetzt werden. Aber manchmal sind die Vorschläge der FDP auch nur dazu da, dass die Politik anderer Kapitalparteien als kleineres Übel erscheinen. Prinzipiell gilt, wenn 1,8 Millionen Beschäftigte den Mindestlohn immer noch nicht bekommen, dann liegt das nicht, wie von den Unternehmerverbänden gerne behauptet, an zu viel Bürokratie bei der Arbeitszeitaufzeichnung, sondern schlicht daran, dass die gleichen Kapitalvertreter die gesetzlichen Regelungen bewusst und vorsätzlich unterlaufen, um ihre Profite zu maximieren. Daher würde ein weiteres Aufweichen der Arbeitszeitaufzeichnungspflicht lediglich dazu führen, dass noch mehr Menschen als bisher beim Mindestlohn betrogen werden. Ohne die Aufzeichnungspflicht werden Manipulationen bei der Arbeitszeiterfassung erheblich vereinfacht. Der „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ des Zolls wird es nahezu unmöglich gemacht, auf den Tag genau die tatsächliche Vergütung der Beschäftigten gegenüber den Betrieben und Gerichten nachzuweisen.
Deshalb ist die Aufzeichnung der Arbeitszeit die Grundlage für eine effektive Kontrolle und damit eine Voraussetzung, dass Beschäftigte das bekommen, was ihnen dem Gesetz nach zusteht. Ob nun endlich wirksame Kontrollen und bei Verstoß wirksame Sanktionen eingeführt werden oder ob einer weiteren Arbeitszeitmanipulation zu Ungunsten der Lohnabhängigen Tür und Tor geöffnet werden, entscheiden am Ende des Tages leider nicht die klügeren Argumente, sondern immer noch die realen betrieblichen und politischen Kräfteverhältnisse.