Zu den fünf Akten im Nord-Stream-Theater

Die Tragödie des Herrn Z.

Die Zerstörung der Nord-Stream-Erdgasröhren in der Ostsee vor bald zwei Jahren wäre für Karl Kraus ein gefundenes Fressen: In „Die letzten Tage der Menschheit“, einer Tragödie in fünf Akten, führte er 1922 auf, was im Zuge des Weltkriegs von Medien und Politikern so alles gesagt wurde. Und damit das eines Tages noch gewusst würde, heißt es in der Einleitung: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden.“ In Sachen Nord-Stream sieht es auch wieder nach fünf Akten einer politisch-medialen Tragödie aus.

(Akt 1) Wer sich bei der Frage, wer die Pipelines in den Ostseeboden gejagt hat, der Frage „Cui bono?“ (Wem nutzt es?) bedient hat, war schnell Kreml-Propagandist; wie schon zu Kraus‘ Zeiten war Logik eher hinderlich.

(Akt 2) Die medialen Debatten um Nord-Stream drehten sich folglich mehr um die Frage, wieso Russland seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt haben könnte. „Das wäre nicht erstaunlich“, war man geneigt zu helfen, „das russische Militär beschießt doch auch ein AKW, das in einem von ihm selbst besetzten Gebiet liegt!“

(Akt 3) Irgendwann änderten Politik und Medien die Taktik: Beschweigen und hoffen, dass sich alles von allein erledigt. Meist erfolgversprechend, aber nun gibt es doch einen Haftbefehl der Generalbundesanwaltschaft.

(Akt 4) Und zwar gegen Wolodymyr Z., 44 Jahre alter Tauchlehrer aus der Ukraine, der in diesem Beruf in Polen tätig war. Er fiel auf, weil er mit dem Transporter, der zur Beladung der Jacht benötigt wurde, in Mecklenburg-Vorpommern in eine Radarfalle gerast war. Der Mann kann vierzig Meter tief tauchen; für die achtzig Meter tief liegenden Röhren braucht es zwar spezielle Fähigkeiten, aber wer würde angesichts eines Fahndungserfolgs kleinlich sein? Und auch die polnischen Behörden zeigten sich bei der Zustellung des Haftbefehls kooperativ – allerdings mit Herrn Z., der Zeit bekam, abermals unterzutauchen. In der Ukraine, wo der EU-Haftbefehl nicht gilt.

(Akt 5) War er’s, so wird man ihn nicht gern vor Gericht reden hören. War er’s nicht, so bleibt er doch der ideale Täter, weil er Regierungen aus der Schusslinie nimmt. In der Ukraine herrscht Krieg, und Z. wird es als Patriot gewiss an die Front ziehen.

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"Die Tragödie des Herrn Z.", UZ vom 23. August 2024



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