Zu spät, um eine Seite zu wählen: Linkin Parks neues Album „From Zero“

Die Stimme stimmt

Eben genau nicht von Null: Mit „From Zero“, dem ersten Album seit dem Suizid ihres langjährigen Sängers Chester Bennington im Jahr 2017, bauen Linkin Park auf dem auf, was der Band eigen ist. Da wäre das Personal: Mit Rapper, Pianist und Rhythmusgitarrist Mike Shinoda ist dem Projekt der Vorarbeiter geblieben, ohne den Linkin Park wohl längst Geschichte wäre. Auch die Besetzung von DJ-Pult (Joseph Hahn), Bass (David Farrell) und Leadgitarre (Bradford Delson) sind aus der klassischen Formierung geblieben, wenngleich Delson keine Konzerte spielt – aus Gründen der mentalen Gesundheit, wie Shinoda dem Musiknachrichtenportal „Blabbermouth“ gegenüber erklärte, weswegen derzeit Alex Feder live unterstützt.

Klingt nach einer relativ glücklichen Familie, doch schon vor Neustart von Linkin Park samt neuer Scheibe und internationalen Auftritten im September letzten Jahres erklärte Drummer Robert Bourdon seinen Ausstieg. Bereits zu Events im Rahmen von Neuauflagen alter Alben war er nicht mehr erschienen. Da sucht wohl jemand die Distanz. Stattdessen sitzt nun der Musikproduzent und Oh-No-Fiasco-Schlagzeuger Colin Brittain hinter der Schießbude.

Die wichtigste Neubesetzung ist zweifelsohne die am Mikro: Mit der Sängerin der relativ wenig bekannten Alternative-Rock-Band Dead Sara, Emily Armstrong, wurde für Linkin Park kein Star rekrutiert. Dabei kochte die Gerüchteküche über: Von Oli Sykes der britischen Band Bring Me the Horizon war genauso die Rede wie vom Kanadier Deryck Whibley, dessen Poppunkprojekt Sum 41 derzeit auf Abschiedstournee ist. Mit Armstrong entschied man sich für eine Musikerin, die nicht mit ihrer eigenen Berühmtheit Linkin Park selbst überstrahlt und für eine, die den gesanglich breit aufgestellten Bennington weitgehend adäquat ersetzen und damit auch alte Stücke performen kann, ohne ihr eigenes Ding daraus zu machen und damit möglichen Unmut der Fangemeinschaft zu provozieren. Die Stimme stimmt also. Sicherlich mit einkalkuliert: Die Frauenquote des Sextetts springt durch Armstrong auf ein Sechstel – das Einzige, wo man sich von einem Nullpunkt wegbewegt hat.

Vielleicht auch mit einkalkuliert, aber als Kollateralschaden in Sachen Imagepflege eingepreist: Armstrong ist Scientologin und sprang gemeinsam mit der Gemeinde ihrem Glaubensbruder Daniel Masterson zur Seite, als den Schauspieler ab 2017 mehrere Frauen beschuldigten, sie vergewaltigt zu haben. Masterson wurde 2023 in zwei Fällen für schuldig gesprochen und verbüßt seitdem eine lebenslange Haftstrafe. Als der Shitstorm direkt nach Bekanntgabe von Armstrong als neuer Sängerin von Linkin Park losbrach, distanzierte sie sich postwendend und erklärte, „den Missbrauch von und Gewalt gegen Frauen“ zu verurteilen und sich auf die Seite der Opfer zu stellen.

Für die Empörungsgesellschaft ist das Spektakel allerdings längst Schnee von gestern: Spätestens mit der Veröffentlichung von „From Zero“ redet niemand mehr darüber, ob Armstrong die moralische Integrität besitzt, für Linkin Park zu singen. Stattdessen überwiegt die allgemeine Freude, dass manchem seine und mancher ihre Lieblingsband aus Jugendjahren zurück ist und dabei musikalisch an jene Phase anknüpft, ehe Linkin primär Stadionrock und Blockbuster-Soundtracks produzierten. „From Zero“ hat zwar keine Komposition zu bieten, die an die legendenbildenden LPs „Hybrid Theory“ (2000) und „Meteora“ (2003) herankommen. Der Rückgriff auf den Nu Metal von anno dazumal ist jedoch deutlich hörbar, fast als fürchte man sich davor, jene nochmal zu verprellen, die mit mediokren Werken wie „The Hunting Party“ (2014) nichts anfangen konnten und lieber beim alten Zeug blieben. Mit „Casualty“ wird auf „From Zero“ dann eben das wieder aufgeraut, was seit „Minutes to Midnight“ vor 17 Jahren weitgehend glattgeschliffen worden ist. Der ruppige Punk wird jedoch mit dem langsamen, von Pianobeats getragenen HipHop-Stück „Overflow“ gleich wieder scharf ausgebremst, nur um dann – nomen est omen – mit „Two Faced“ jenen feinen Klangteppich zu weben, auf dem Linkin Park einst über die Skateparks des US-Bundesstaats Kalifornien hinausflogen und zu einer der erfolgreichsten Popmusikgruppen des 21. Jahrhunderts wurden: Shinoda rappt die Strophe, Armstrong geht für den Refrain nahtlos vom klaren in den gutturalen Gesang über, Hahn scratcht über schwere Gitarrenriffs und grooviges Schlagzeug, Armstrong zur Antwort, als wären sie und seine Plattenteller im Gespräch miteinander.

HipHop oder Metal? Auch der Songtext schlägt vor, sich zwischen die Stühle zu quetschen: „It’s too late for choosing sides / Two faced, caught in the middle.“ Da fällt das Vergessen leicht, denn sind plötzlich wieder die Nullerjahre, alles gut, und vielleicht, ganz vielleicht, kann man sich das ganz und gar nicht mehr nach 2000er-Maßstab bepreiste Ticket für die Tour im kommenden Sommer mit Konzerten in Hannover, Berlin, Düsseldorf und Frankfurt am Main ja leisten.

Linkin Park
From Zero
Warner Records

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"Die Stimme stimmt", UZ vom 17. Januar 2025



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