Wirtschaftsinstitute fordern staatliche Investitionen in Höhe von 600 Milliarden Euro

Die Schuldenbremse muss weg!

Die Schuldenbremse ist die heilige Kuh des Neoliberalismus. Sie dient seit ihrer Einführung 2009 als Totschlagargument für Sozialabbau und Kaputtsparen der öffentlichen Infrastruktur. Auch in der aktuellen Debatte zum Haushalt 2025 ist sie für Finanzminister Christian Lindner Legitimation für weitere Sparorgien. Umso überraschender erscheint es, dass ausgerechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung „600 Milliarden Euro staatliche ­Extra-Investitionen“ ­fordert.

„Der deutsche Staat muss und kann über die kommenden zehn Jahre jährlich etwa 60 Milliarden Euro gezielt zusätzlich investieren, um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen“, so IMK und IW laut einer in der vergangenen Woche vorgestellten Studie. Mit dem Geld könnte bis Mitte der 2030er Jahre nicht nur der Investitionsstau in den Kommunen aufgelöst, sondern auch dringend nötige Fortschritte in der Qualität der Bildungsinfrastruktur, bei Energie- und Verkehrsnetzen, öffentlichem Verkehr sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden.

Eine derartige Investitionsoffensive würde nach Auffassung der beiden Institute wirtschaftliche Vorteile über Jahrzehnte bringen – unter anderem, weil eine höhere Produktivität durch bessere Bildung und effektivere Technik die geringere Anzahl an Arbeitskräften in einer alternden Gesellschaft teilweise ausgleichen könnte. Weil künftige Generationen von diesen Investitionen profitieren, wäre es sinnvoll, diese über Kredite zu finanzieren. Die Regelungen zur Schuldenbremse seien so schnell wie möglich zu modifizieren, um den notwendigen Spielraum für Kredite zu ermöglichen, so die Wissenschaftler.

Konkret werden in der Studie rund 200 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen in den Klimaschutz mit der energetischen Gebäudesanierung gefordert. Hinzu kommen der Ausbau der Netze für Strom, Wasserstoff und Wärme sowie weitere Infrastrukturkomponenten einer CO2-freien Energie- und Wärmeversorgung.

Um den bei Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen, werden rund 177 Milliarden Euro veranschlagt. Mit 127 Milliarden Euro schlagen die Investitionen in die Verkehrswege und den ÖPNV zu Buche. Darunter sind 60 Milliarden Euro für Modernisierung und Ausbau des Schienennetzes, 28 Milliarden Euro für den ÖPNV-Ausbau sowie 39 Milliarden Euro für Instandhaltung der Fernstraßen, einschließlich Brücken. 42 Milliarden fehlen zudem für den Ausbau der Ganztagsschulen, 35 Milliarden Euro für die Sanierung der Hochschulen und 37 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau.

Der Ruf aus der Wirtschaft nach dem Staat als ideellem Gesamtkapitalisten, der durch gezielte Investitionsprogramme der heimischen Wirtschaft Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz verschafft, ist nicht neu. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 stellte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des BDI Holger Lösch fest: „Wir stehen wirklich vor einem riesigen Investitionsberg. Da brauchen wir natürlich dann Unterstützung, da brauchen wir Hilfe, da brauchen wir auch Schutz vor anderen Ländern, die weniger Wettbewerb, weniger Ambitionen beim Klimaschutz haben.“

Angesichts der jüngsten Wachstums­prognosen schlug IW-Direktor Michael Hüther in der vergangenen Woche in die gleiche Kerbe: „Die deutsche Wirtschaft steht vor gigantischen Herausforderungen. Wir brauchen jetzt Mut, um uns vom Stückwerk zu verabschieden und das Land langfristig zukunftsfähig zu machen.“ Die „Wirtschaftsweisen“ haben ihre Konjunkturprognose von 0,7 im vergangenen Herbst auf 0,2 Prozent für dieses Jahr nach unten korrigiert. Die EU-Kommission ist noch pessimistischer und erwartet für Deutschland ein Wachstum von gerade einmal 0,1 Prozent. Kein Wunder, dass die klugen Kapitalvertreter um das IW – anders als der Finanzminister – bereit sind, die Schuldenbremse als ideologischen Ballast auf dem Altar der Realpolitik zu opfern.

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"Die Schuldenbremse muss weg!", UZ vom 24. Mai 2024



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