Eine Podiumsdiskussion des Finanzministeriums hilft nicht, sie zu schließen

Die Schere öffnet sich weiter

Von Uwe Koopmann

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Armut kann appetitanregend eingebettet werden. Die Pressestelle des Bundesfinanzministeriums schrieb über den Ausklang einer kürzlich von ihr durchgeführte Diskussionsrunde: „Zum Ende der Veranstaltung bot sich bei einem kleinen Empfang die Gelegenheit, sich in zwangloser Atmosphäre weiter zum Thema ‚Soziale Gerechtigkeit’ auszutauschen.“

Mit dabei: Parlamentarischer Staatssekretär Jens Spahn (CDU), Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes e.V. als Sachverständiger, und Prof. Dr. Ronnie Schöb als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Finanzministeriums. Hoffentlich ist ihnen nichts im Hals stecken geblieben. Eigentlich ging es ja auch nicht um Schnittchen, sondern um „soziale Gerechtigkeit, inklusives Wachstum und die Rolle der Finanzpolitik“.

Das war eine wohl sortierte Zusammenstellung auf dem Podium. Spahn gilt manchen Unionisten als Hoffnungsträger mit Ambitionen als Lobbyist der Pharmaindustrie. Spahn, Jahrgang 1980, möchte die staatlichen Zuschüsse zur sozialen Sicherung nicht wachsen sehen, weil dies die junge Generation, zu der er sich wohl auch zählt, belasten würde. Seine Eingangsfrage lautete denn auch: „Wie erreichen wir, dass der Sozialstaat auch in Zukunft finanzierbar bleibt?“

Cremer muss sich dem Vorwurf stellen, ein Neoliberaler zu sein, ein „Streiter gegen die Empörungskultur“, der sich in einem „relativ gefestigten und gut regierten Land“ wähnt. Allerdings, so räumt er ein, müssten sich die Kommunen die nötige Mühe geben, Schulabschlüsse und Ausbildung zu sichern. Zu viel Mühe haben sich dagegen die Eltern gegeben, die mehr als zwei Kinder in die Welt gesetzt und damit ihr Armutsrisiko erhöht haben. Fürsprache bekommt Cremer aus einem anderen Ministerium: von Andrea Nahles (SPD). Sie verurteilte wie Cremer die „rituelle Skandalisierung“ der Armut und den „Empörungsgestus“.

Cremer gibt in seinem Statement zu: „Wer aber dauerhaft von einem Einkommen um oder unter der Armutsrisikowelle lebt, ist von vielem ausgeschlossen, was bei uns als normal gilt, er hat es schwer teilzunehmen.“ Und er gibt auch zu: Hartz IV ist „auf Kante genäht“. Er vermisst präventive Maßnahmen des Staates, der die Betroffenen befähigen soll, aus dem Schlamassel herauszukommen. Eine minimale Rentenerhöhung helfe da nicht. Und am anderen Ende der Fahnenstange geht es beim Bund, den Ländern und den Kommunen um die sattsam bekannten Fragen „Wer ist wo zuständig?“ und „Wer soll das bezahlen?“

Ronnie Schöb ist Volkswirtschaftler an der FU Berlin unter anderem mit dem Schwerpunkt „Reform des Sozialstaates“. Er belegte die Ungleichheiten bei den Löhnen differenziert zum Beispiel nach Niedriglohnsektor und „Ungerechtigkeit “ oder unterschieden nach Wirtschaftsentwicklung und „Lebenszufriedenheit“. Seine Lösungen: Einkommensteuerrecht und Sozialversicherung, ALG I und ALG II müssen neu justiert werden.

Auch der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums sieht Handlungsbedarf. Er verweist auf „Möglichkeiten zur Erhöhung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität vor allem in der Bildungspolitik und dort insbesondere in der Förderung der frühkindlichen Entwicklung.“ Und zum Abschluss kommt sogar ein Hinweis zu einer “maßvollen, aber konsequenten Besteuerung von Erbschaften.“

Die genaueren Untersuchungen haben ein Problem: Sie sind ungenau. Wollte die Studie die Einkommen der Spitzenverdiener untersuchen und darstellen, dann zeigte sich, dass „die Datenlage für diese Einkommensschichten eher bescheiden“ ist. In dieser Gruppe geht es nicht nur um Arbeit und Leistung, sondern auch um Kapitaleinkommen. Das mag unterschiedlich wachsen. Das mag auch davon abhängen ob TOP-1-Prozent oder TOP-10 -Prozent betrachtet werden. Das wiederum kann zu der verwirrenden Aussage führen, dass „sich für Deutschland keine monotone Entwicklung zu höherer Einkommensungleichheit“ findet.

So verfügen die einkommensstärksten 10 Prozent der Haushalte in den OECD-Ländern  nach dieser Untersuchung über 20 Prozent des Haushaltseinkommens. Ihr Anteil am Vermögen liegt dagegen bei 50 Prozent. Umgekehrt haben 40 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte etwa 20 Prozent des Einkommens – aber nur knapp 3 Prozent des Vermögens. In Deutschland besitzen 10 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des gesamten Vermögens.

Für die Interpretation der vielfältigen Zahlen gilt eine alte, durchaus politische Bauernregel: Allein durch das mehrfache Wiegen wird die Kuh nicht dicker.

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"Die Schere öffnet sich weiter", UZ vom 9. Juni 2017



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