Über echte und scheinheilige Solidarität, wie Klinikbeschäftigte gegen das Virus kämpfen und was in der Pandemie nötig wäre – ein Gespräch mit Alexandra Willer

Die Ruhe vor dem Sturm

UZ: Italienische Ärzte berichten, dass dort das Gesundheitswesen so überlastet ist, dass sie vor der Entscheidung stehen, welchen der Covid-19-Patienten sie helfen können und welche sie sterben lassen müssen. Erwartest du, dass euch an der Uniklinik Essen (UKE) ähnliche Zustände bevorstehen?

Alexandra Willer: Ich bin weder Seuchenwissenschaftlerin noch im Krisenstab der Klinik. Ich kann sagen, was ich wie jeder andere Mensch über die Medien mitbekomme. Es gibt ja ernstzunehmende Berechnungen, wie viele Patienten in welcher Zeit kommen werden und wie viele Beatmungsplätze zur Verfügung stehen werden. Ich gehe davon aus, dass es hier zu ähnlichen Situationen wie in Spanien oder dem Elsass kommen kann.

UZ: Auch Politiker betonen jetzt gerne, wie dankbar sie den Pflegekräften sind, die Coronapatienten versorgen. Ist diese Wertschätzung nicht schön?

Alexandra Willer: Sie wäre schön, wenn sie nicht scheinheilig wäre. Dieselben Politiker haben in den letzten 20 Jahren unser Gesundheitssystem kaputtgespart und auf Wirtschaftlichkeit getrimmt. Diese Politiker vertreten die Interessen der Wirtschaft – sie werden auch in der Coronakrise nicht einsehen, dass wir ein Gesundheitssystem brauchen, das nicht am Profit ausgerichtet ist.

UZ: Auch in den Mainstream-Medien lesen wir jetzt häufiger, dass in den Kliniken Personal fehlt. Was hältst du davon?

Alexandra Willer: Im letzten Jahr, als diese Bertelsmann-Studie herauskam, haben sie geschrieben, dass es zu viele Krankenhäuser gibt. Jetzt entdecken sie, dass Personal fehlt. Es ist wie immer: In der Krise verstehen alle, was die einsamen Rufer in der Wüste in den letzten 15 Jahren gerufen haben. Nach der Krise ist das schnell wieder vergessen. Ich glaube diesen Medien, so weit ich spucken kann.

UZ: Wie schätzt du die Maßnahmen der Regierung ein, um das Virus einzudämmen?

Alexandra Willer: Viele davon sind richtig, aber sie gehen nicht weit genug. Wenn man die Bekämpfung des Virus erst meinen würde, dann wäre es jetzt nötig, sofort Medikamente zu beschlagnahmen und Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung. Wir können uns doch nicht auf einzelne Konzerne verlassen, die jetzt sagen: Wir stellen unsere Produktion von T-Shirts auf Schutzmasken um. Alle Gesundheitseinrichtungen müssten in öffentliche Hand überführt werden, unter Kon­trolle der Beschäftigten und der Patienten. Niemand sollte mit Impfstoffen und Medikamenten Profit machen. Das bedeutet, dass Pharmakonzerne in öffentliches Eigentum und unter demokratische Kontrolle gehören.
Und wenn man es ernst meinen würde, würde man nicht jeden Unternehmer selbst entscheiden lassen, ob der Betrieb weiterläuft. In vielen Betrieben wird ganz normal gearbeitet, da gilt kein Kontaktverbot.
Die Herrschenden werden alles tun, dass die abhängig Beschäftigten für die notwendigen Maßnahmen und für die viel größeren Rettungspakete für die Börsen und Großkapitalisten zahlen – wie in der Bankenkrise. Es wird nötig sein, dafür zu kämpfen, dass die Banker, die Spekulanten, die Konzerne und Großaktionäre bezahlen.

UZ: Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat verfügt, die Personaluntergrenzen in der Pflege auszusetzen.

Alexandra Willer: Ich kann nur wiederholen, was ver.di schon gesagt hat: Das ist der falsche Schritt. Uns am UKE betrifft diese Maßnahme nicht direkt, weil wir ja vor anderthalb Jahren im Streik eine weitergehende Regelung der Personalschlüssel erkämpft haben. Aber ich fürchte, dass die Klinikleitung verlangen wird, dass unsere Regelung auch außer Kraft gesetzt wird, sobald die Patientenzahl massiv ansteigt. Noch herrscht eine windige Ruhe vor dem Sturm.

UZ: Der Klinikvorstand will, dass die Kollegen jetzt Freischichten nehmen. Darum hat es eine Auseinandersetzung zwischen Vorstand und PR gegeben.

Alexandra Willer: Der Ärztliche Direktor sagt in den Talkshows, dass sich die Kolleginnen und Kollegen jetzt ausruhen sollen. Aber nach der Lösung, die der Vorstand jetzt angekündigt hat, müssen die Kollegen Urlaub nehmen, Überstunden abfeiern oder Minusstunden machen, um ins Frei zu gehen. Das heißt letztlich, dass die Kollegen für dieses Ausruhen selbst bezahlen.

UZ: Wie bereitet sich die Klinik auf den Sturm selbst vor?

Alexandra Willer: Wir sind weder als ver.di noch als Personalrat im Krisenstab der Klinik vertreten. Ich kenne also auch nur die offiziellen Stellungnahmen. Die Klinik setzt dass um, was das Gesundheitsministerium vorgibt: Die verschiebbaren Behandlungen werden reduziert, Kollegen werden eingearbeitet, die Intensivkapazitäten ausgebaut.

UZ: Womit müssen die Mitarbeiter rechnen?

Alexandra Willer: Soll ich die Horror­szenarien aufzählen, die es in anderen Ländern gibt? Dass in Italien nicht genug Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen, dass Pflegekräfte 48 Stunden durcharbeiten?

UZ: Euer Personalrat hat beschlossen, dass auch die Freigestellten während der Pandemie in ihren früheren Bereichen arbeiten werden. Was heißt das für die Interessenvertretung in dieser Zeit?

Alexandra Willer: Wir werden im Personalratsbüro eine Notbesetzung haben, die anderen von uns werden die Kollegen in ihren Bereichen unterstützen. Vieles wird sowieso nicht mehr in unseren Händen liegen: Das Arbeitszeitgesetz und die Kontrolle der Arbeitszeiten werden während dieser Krise ausgesetzt werden. Wir werden gezwungen sein, unter Bedingungen zu arbeiten, gegen die wir sonst auf die Barrikaden gehen würden. Allerdings werden wir bei der Arbeit in den Bereichen vielleicht auch Dinge mitbekommen, die Kolleginnen nicht hinnehmen wollen und können sie direkt unterstützen.

UZ: Unter Klinikbeschäftigten gibt es eine starke Bereitschaft, sich in dieser Krise für die Gesundheit der Menschen aufzuopfern.

Alexandra Willer: Nicht nur in der Krise. Die Proteste und Streiks in zahlreichen Krankenhäusern der letzten Jahre haben jedoch auch gezeigt: Die Beschäftigten wollen keine Orden für ihre heldenhafte Aufopferung bekommen, sondern vernünftige Bedingungen, unter denen sie arbeiten und die Patienten versorgen können. Aber wenn jetzt massenweise Menschen eine Behandlung brauchen, sind es die Beschäftigten, die die Versorgung sicherstellen müssen.

UZ: Im Moment appellieren Politiker und Medien an die Solidarität der Bevölkerung. Sollten sich Linke und Gewerkschafter darüber nicht freuen?

Alexandra Willer: Dazu braucht es doch die Appelle der Politiker nicht. Viele Menschen verhalten sich überraschend solidarisch – obwohl wir seit Jahrzehnten nur noch lernen: Du musst die Ellenbogen ausfahren. Aber es ist eine Frechheit, dass die scheinheilige Frau Merkel an unsere Solidarität appelliert – ihre ganze Politik ist doch unsolidarisch. Die Wirtschaftspolitik der Regierenden ist unsolidarisch, das liegt im System.
Die Unternehmer verhalten sich noch unsolidarischer als sonst. Es werden nach wie vor Sachen produziert, die jetzt im Moment gesellschaftlich nicht notwendig sind. Dafür werden Menschen in Fabrikhallen gesperrt und ihre Gesundheit gefährdet, während andere in Kurzarbeit geschickt oder entlassen werden. In Italien und anderen Ländern hat es erste Streiks gegeben: Warum sollen wir jetzt ins Fiat-Werk kommen, um während so einer Pandemie Autos zu bauen?
Echte Solidarität in der Coronakrise würde übrigens auch bedeuten, die Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen und sie damit aus den allein schon hygienisch katastrophalen Lagern herauszuholen, in denen sie auf den griechischen Inseln und an der griechischen Grenze festsitzen.
Was mich betrifft: Nur, weil ich jetzt wieder als Krankenschwester arbeite und nicht als freigestellte Personalrätin, bin ich noch lange nicht solidarisch mit meinem Arbeitgeber. Ich bin solidarisch mit meinen Kollegen und mit den Patienten.

Das Interview führte Olaf Matthes


Alexandra Willer ist Stellvertretende Sprecherin der Vertrauensleute der Essener Uniklinik, außerdem Vorsitzende des Personalrats.

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"Die Ruhe vor dem Sturm", UZ vom 27. März 2020



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