Momentaufnahmen des widerständigen Lebens von Grete Thiele

Die rote Grete

Ulrike Müller

Die Willkür des Terrors klopft meist in der Nacht an die Tür und holt sich ihre Opfer. Die Willkür wird zum Begleiter auf dem Weg ins Gefängnis. Zum Verhör. In den Folterkeller. Ins Lager. Auf den Richtblock. Auch Margaretha (Grete) Rettig, geboren am 16. Dezember 1913, nur wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in der heranwachsenden Bergbaustadt Bottrop, mag wohl dieses Gefühl des Ausgeliefertseins kennen, aber sie ist eine Kämpferin durch und durch und sie weiß, woher sie kommt. Schon der Vater, Novemberrevolutionär und Mitglied des Arbeiter-und-Soldaten-Rates, gibt ihr dies mit auf den Weg. Der Gewerkschafter, Betriebsrat und SPDler hat selber seine Haut im Bergwerk zu Markte getragen und stirbt mit nur 46 Jahren an den Folgen eines Grubenunglücks. Schon wieder ein Leben unter Tage für die Ruhrbarone dort oben im Luxusambiente.

Dreckig, staubig, ungesund

Die damals zwölfjährige Grete und ihr jüngerer Bruder Heinrich sind die einzig Überlebenden von sechs Kindern. Ihre Kindheit in Bottrop durchweht jene Luft, die nach Schweiß und Arbeit riecht. Dreckig. Staubig. Ungesund. Hier leben sie, die vielen kleinen Leute, die den Himmel nicht anschauen können, weil ihr Blick nicht so weit reicht. Die früh sterben, weil das Geld nicht langen will für besseres Essen, ein trockenes Bett und den Arztbesuch. Ihr Glück reicht nicht mal so weit wie der Schlot eines Schornsteins.

Die Mutter, eine vormalige Weberin, zieht mit den beiden Kindern nach dem Tod des Vaters aus dem Ruhrgebiet in den bergischen Industrie- und Textilmoloch Elberfeld-Barmen. Dessen Arbeiterschicksale hat der junge Friedrich Engels in seinen „Briefen aus dem Wuppertal“ bereits 1839 trefflich beschrieben. An zahllosen Webstühlen in niedrigen Räumen sind schon Kinder dazu verurteilt, gebückt und kraftlos einem frühen Tod entgegenzuschuften. Nicht von ungefähr sind es immer wieder unbequeme Geister, die dieser unbequemen Stadt erwachsen, unter ihnen Else Lasker-Schüler, Armin T. Wegner, Helene Stöcker und Wolfgang Abendroth. Widerständigkeit hat hier also durchaus Tradition. Und die wird auch schon die junge Grete Rettig prägen.

Der Bruch mit der SPD

Im seit 1929 als eine Stadt aus Barmen und Elberfeld gebildeten Wuppertal beendet sie Volks- und Handelsschule und tritt ihre erste Stelle als Kontoristin an. Noch als Jugendliche schließt sich Grete der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) an, wird 1932 in der sozialdemokratischen Jugendorganisation die Wuppertaler Vorsitzende sowie Mitglied des SAJ-Unterbezirksvorstands. Im selben Jahr tritt sie der SPD bei, obwohl sie mit der Parteipolitik in den Wirren von Wirtschaftskrise und erstarkendem Nationalsozialismus mehr und mehr hadert. Bereits ein Jahr später, im Jahr der Machtübergabe an die Faschisten, bricht sie mit der SPD und wendet sich den Kommunisten zu.

Im Dezember 1933 wird sie das erste Mal von der Gestapo verhaftet. Nach ihrer Freilassung stellt ihre alte Firma sie wieder ein – allerdings erst nach Gretes vehementem Protest. Den hat sie bereits in ihrer Jugend eingeübt: Gretes Vater hat sich zeitlebens gegen Ungerechtigkeit gewehrt – und seine Tochter wird ihm nachfolgen auf diesem Weg des fortwährenden „Nein“. Ebenso wie ihr Bruder, der zur Tarnung nach ‘33 das NSDAP-Parteibuch in der Tasche trägt, aber innerlich dem Nazi-Gräuel widersteht und konspiratives Material transportiert. Die Willkür des Terrors holt ihn sehr bald in Gestapo-Uniform ab. Er widersteht der Misshandlung – und kommt frei, weil seine Schwester ihn entlastet und alles auf sich nimmt. Die Willkür des Terrors wird nun auch mit ihrer zweiten Verhaftung 1936 für die junge Widerständlerin spürbar. Auf dem kalten Zuchthausboden in Dunkelhaft. Umgeben vom Grauen bis fast zur körperlichen Unerträglichkeit.

Hanna Melzer als Vorbild

„Gegrüßt seien alle, die der Angst die Stirn bieten. Gegrüßt seien alle, die beweisen, dass die Hoffnung nicht stirbt, solange nicht der letzte Mensch gestorben ist …“ Diese Worte des kurdischstämmigen Romanciers Yaşar Kemal hätten auch wegweisend sein können für die junge Grete Rettig. Ihr Überlebenswille ist nicht zu brechen, im Gegenteil: Die dreieinhalb Jahre Haft formen sie nun endgültig zur Kommunistin – auch und vor allem beeindruckt von der Standhaftigkeit der in verschiedenen Zuchthäusern inhaftierten Genossin Johanna „Hanna“ Melzer. Die „Eiserne Johanna“ erträgt über Jahre hinweg beharrlich Folter und Haft, ohne jemanden zu verraten. Sie übersteht das schier Unüberstehbare bis zur Befreiung vom Faschismus 1945.

5121 Thiele Kommunalwahl 94 - Die rote Grete - DKP, Grete Thiele, KPD - Hintergrund
Starke Truppe: Die Kandidatinnen und Kandidaten der DKP zur Wahl der Bezirks-vertretung Elberfeld-West in Wuppertal scheiterten 1994 nur knapp an der 5-Prozent-Hürde – in der Mitte Grete Thiele (Foto: Archiv Dirk Krüger)

Grete Rettig wird wieder freigelassen, lebt ab 1939 mit der Mutter in Wuppertal, findet eine neue Arbeitsstelle, heiratet zwei Jahre später einen Gleichgesinnten und engagiert sich erneut im antifaschistischen Widerstand. Den Bombenangriffen auf die Industriestadt im Bergischen entgeht sie mit ihrer Mutter durch Evakuierung ins Sauerland. 1945 erleidet die so starke junge Frau mit Anfang dreißig eine Totgeburt. Aber Grete Thiele, wie sie nun heißt, überwindet auch diesen Schicksalsschlag, gibt nicht auf, macht weiter und geht ihren Weg.

Für die Rechte der Frau

„Die rote Grete“ kehrt nach Wuppertal zurück. Sie hilft mit, die stark zerstörte Stadt wieder aufzubauen, organisiert die KPD-Ortsgruppe und wird von der britischen Militärregierung in das damals noch provisorische örtliche Stadtparlament berufen. Von 1948 bis 1951 sowie von 1952 bis 1954 gehört sie der KPD-Fraktion des Rates der Stadt an und unterliegt bei der Wahl für das Amt der Bürgermeisterin im November 1949 nur knapp dem CDU-Kandidaten. 1947 trifft sie, nunmehr Mitglied des ersten Landtages von Nordrhein-Westfalen, auch die kommunistische Widerständlerin Hanna Melzer wieder. Aus der vormaligen Kontoristin wird in dieser Zeit endgültig die Politikerin Grete Thiele, die auch sehr bald schon erste Erfolge als Abgeordnete verzeichnen kann: Während der Beteiligung der KPD an der CDU-geführten Allparteienregierung wird auf Hanna Melzers und ihre Initiative hin zur Entlastung berufstätiger Frauen ein freier bezahlter Hausarbeitstag eingeführt.

1949 wird sie, eine der „Frauen der ersten Stunde“, mit fünf weiteren ehemaligen Mitgliedern ihrer Landtagsfraktion in den ersten Deutschen Bundestag gewählt. Die 35-jährige Mutter eines soeben geborenen Sohnes und jüngste weibliche Abgeordnete hat nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Ihr Augenmerk liegt vor allem auf den schwierigen Lebensbedingungen erwerbstätiger Mütter im Nachkriegsdeutschland. Das vorwiegend männlich besetzte Plenum erinnert sie mit starken Worten im Dezember 1949, die Gleichberechtigung von erwerbstätigen Frauen mit dem Rechtsanspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu verbinden. Denn immer noch sind es Hunderttausende, die ihre Familie versorgen, den Haushalt in Schwung halten und dazu auch noch erwerbstätig sind – allerdings unter weitaus schlechteren finanziellen Bedingungen als ihre männlichen Kollegen. Mieser Lohn für gute Arbeit – damit, so Grete Thiele, muss endlich Schluss sein.

Gegen die Wiederbewaffnung

Noch bevor die Bundesregierung im November 1951 beim Bundesverfassungsgericht das Verbot der KPD beantragt, sind kommunistische Bundestagsabgeordnete von polizeilichen Durchsuchungen und strafrechtlicher Verfolgung nach Aufhebung ihrer Immunität betroffen. Zwar ist Grete Thiele vorerst noch geschützt, da der Bundestag es ablehnt, ihre Immunität aufzuheben, aber der Ton in den Bundestagsdebatten verschärft sich zunehmend. Vor allem die avisierte Wiederaufrüstung führt zu heftigen Kontroversen. Unvergessen bleibt die – auch im Rundfunk übertragene – Rede von Grete Thiele am 8. Februar 1952 in der Debatte über die Erklärung der Bundesregierung zum sogenannten Verteidigungsbeitrag: „Wehrgesetz bedeutet Krieg!“ schleudert sie dem Bonner Auditorium entgegen, „Generalvertrag und Atlantikpakt dienen allein dem Angriffskrieg. Wir aber können nicht kaltblütig sein, wenn es um unsere Kinder geht, wenn es um die Erhaltung all der Werte geht, die uns nach zwei furchtbaren Kriegen noch geblieben sind.“ Wie aktuell diese Worte doch anmuten angesichts einer „Zeitenwende“ im Panzermodus verordneter „Kriegstüchtigkeit“.

Die KPD-Abgeordneten der jungen BRD werden zunehmend isoliert, vor allem nach den Ereignissen in der DDR am 17. Juni 1953. Wenige Monate später kommen die Kommunisten bei der Bundestagswahl nicht über die neue 5-Prozent-Hürde, die ehemaligen Abgeordneten verlieren ihre Immunität. Es kommt zu zahlreichen Ermittlungsverfahren, auch gegen Grete Thiele. 1956 erklärt das Bundesverfassungsgericht die KPD für verfassungswidrig. Zusammen mit ihrem Sohn Klaus verlässt die Streitbare daraufhin die Bundesrepublik. Sie übersiedelt in die DDR, die ihr für die nächsten Jahre Schutz bietet.

Der Weg in die DKP

Das 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29. Mai 1968 schafft die Voraussetzungen für die Neugründung einer kommunistischen Partei. Am 28. Juni beschließt der Bundestag eine Amnestie für alle bis dahin begangenen politischen Straftaten, die kommunistischen Urhebern zur Last gelegt wurden. Grete Thiele kehrt erneut nach Wuppertal-Elberfeld zurück. Die Wiederzulassung der KPD kann sie in ihren Gesprächen mit Bundesjustizminister Gustav Heinemann nicht erreichen, aber die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP) wird sie bis zu ihrem Lebensende begleiten, vor allem publizistisch.

„Gegrüßt seien alle, die der Angst die Stirn bieten. Gegrüßt seien alle, die beweisen, dass die Hoffnung nicht stirbt, so lange nicht der letzte Mensch gestorben ist …“: Die unermüdlich widerständige Kommunistin Grete Thiele hat ihre Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Gesellschaft ihr Leben lang nicht aufgegeben. Am 29. Dezember 1993 stirbt sie in ihrer Wahlheimat Wuppertal nach langer schwerer Krankheit im Alter von 80 Jahren.

„Straße frei, es wird geschossen“, Juli Zeh über die KPD-Abgeordnete Grete Thiele in „Der nächste Redner ist eine Dame – Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag“, Herausgeber: Deutscher Bundestag, Ch.Links-Verlag 2024, 25 Euro
Eine Biographie über Grete Thiele gibt es auf der Homepage des Landtags NRW.

Jawohl, auch als Kommunistin!
Auszüge aus einer Rede gegen die Remilitarisierung im Bundestag
Am 7. Februar 1952 hielt Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) eine zweistündige Kriegsrede im Bundestag. In seiner Regierungserklärung plädierte er für den „deutschen Verteidigungsbeitrag im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)“. Kurz gesagt, es ging um die deutsche Wiederbewaffnung. In der Aussprache am Folgetag gab Grete Thiele als Abgeordnete der KPD Kontra. Im Folgenden ein Auszug aus ihrer Rede, in der sie sich zunächst an die CDU-Abgeordnete Aenne Brauksiepe wandte:
Frau Brauksiepe, ich bewundere eigentlich Ihren Mut, wie Sie sich hier hinstellen können und Rekrutierung der Jugend, Kriegsvorbereitung, ja sogar Opferbereitschaft der Frauen propagieren, im gleichen Jargon, wie wir das noch allzu deutlich von der NS-Frauenschaft (…) in Erinnerung haben. Ich weiß nicht, ob Ihnen diese Sprache noch sehr geläufig ist. Hier fehlte nämlich nur noch: „in stolzer Trauer“.
(…) Ich empfehle Ihnen, einmal ganz unverhüllt, ohne Phrasen den Frauen und Müttern die volle Wahrheit über Ihre Pläne der Kriegspolitik zu sagen. Dann werden Sie nämlich merken, dass Sie niemals mehr das Recht haben, in dieser Art im Namen der Frauen zu sprechen. Warum verbieten Sie denn die Volksbefragung? Weil Sie wissen, dass das ganze Volk den Krieg, ganz gleich unter welchen Bedingungen, ablehnt, dass das ganze Volk gegen Sie, gegen die Politik des Bundeskanzlers steht. Dabei ist es so billig, jede Friedensäußerung als kommunistisch, als moskauhörig darzustellen. In dieser Debatte, wo es um das Schicksal unseres Volkes geht, wo über Leben und Zukunft unserer Jugend verhandelt wird, spreche ich zu Ihnen als Frau über die Angst und die Sorge der Frauen und Mütter.
(Zuruf von der Mitte: Als Kommunistin!)
Jawohl, auch als Kommunistin. In Hunderten von Briefen und Entschließungen, in Unterhaltungen mit Frauen und in Besuchen von Frauen aller Schichten des Volkes bin ich dazu aufgefordert worden.
(Zuruf von der Mitte: Das zu sagen, was Moskau will!)
Ich möchte Ihnen aber auch von der ungeheuren Empörung sprechen, die unsere Bevölkerung angesichts der Tatsache erfasst hat, dass der Bundeskanzler auffordert, kaltblütig die Massengräber vorzubereiten,
(Zurufe von der Mitte: Na! Na!)
kaltblütig unsere Städte und Dörfer, unsere schöne deutsche Heimat neuem Bombenterror, der völligen Vernichtung preiszugeben. Das ist das, worüber verhandelt werden soll. Wehrgesetz bedeutet Krieg, Generalvertrag und Atlantikpakt dienen allein dem Angriffskrieg. (…)
Ebenso empört sind die Frauen darüber, (…) dass Sie diese Pläne der Aufrüstung und der Kriegsvorbereitung bereits bei der Wahl zum Bundestag hatten, während Sie ihren Wählern mit sozialen Phrasen von der Erhaltung der Familie und von einer blühenden Wirtschaft leere Versprechungen gaben. (…) Aber wo ist der Abgeordnete im Bundestag, der sagen kann, dass er in dem damaligen Wahlkampf nur ein Wort davon verraten hat, dass er bereit ist, die Remilitarisierung vorzubereiten? Hätte er damals auch nur ein Wort davon dem deutschen Volk, den deutschen Frauen, der deutschen Jugend verraten, dann gäbe es keine Adenauer-Regierung. Dann hätte das Volk Sie damals schon davongejagt, anstatt Sie in den Bundestag zu schicken.
Die Antikriegsrede von Grete Thiele im Bundestag vom 8. Februar 1952 lässt sich in der Mediathek des Deutschen Bundestages nachhören.

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"Die rote Grete", UZ vom 20. Dezember 2024



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