Die DKP Berlin beginnt mit dem Film „Der letzte Schuss“ eine Reihe mit Kulturveranstaltungen

Die Revolution und die Liebe

Olaf Brühl

Liebe ist nie frei vom Politischen, von Interessen. Der Kampf der Geschlechter ist in den Kampf der Klassen und der Macht verschlungen. Eben das bringen Drama und Oper zum Ausdruck. Von Anfang an spielen diese Fragen eine elementare Rolle in der Kultur der neuen sozialistischen Gesellschaften: Wird es nach Abschaffung der Ausbeutung nur noch Komödien und heitere Kunst geben? Werden individuelle Begierden im Kollektivismus aufgehen? Wird etwa nur historischer Optimismus als Kennzeichen der Kunst im Sozialismus alle Tragik überwinden? Die Realität hatte die Frage längst beantwortet. Unmenschlich viel Optimismus ist nötig, enorm viel Liebe wird gebraucht und Solidarität. Kriege der Reaktion gegen die Revolution überschatten mit Grauen den Aufbruch in eine friedliebende Ordnung. Angriff, Verrat und Verteidigung kämpfen auf allen Seiten.

Wsewolod Wischnewski, der 1919 die Kämpfe der russischen Bürgerkriege als Rotarmist mitgemacht hatte, beschrieb sie später wortgewaltig in „Optimistische Tragödie“. Er bekundet, dass viele der Soldaten, die mit Enthusiasmus ihr junges Leben gegen die Hydra der Unterdrücker einsetzten und verloren, „nicht in Klarheit starben“, auch wo sie siegten.

Die Errungenschaften der Revolution zu zerstören, wurde ein kolonialistischer Weltkrieg entfesselt, der Abermillionen Sowjetbürger sowie Sozialisten und Kommunisten der ganzen Welt in den Tod riss. Dennoch besiegte die Rote Armee den Faschismus. Und dennoch blieb zu warnen: „Der Schoß ist fruchtbar noch.“

Ist das die richtige Zeit, um Gedichte zu schreiben?

Welche Chance haben inmitten all dessen individuelle Glückserwartungen und Liebe? Ist das Private, das Persönliche trennbar vom Ganzen, von der Zeit? Solche Fragen bewegten auch den jungen DDR-Komponisten Siegfried Matthus, (1934 bis 2021), einen Schüler Eislers, als er gegen Ende der Fünfziger Jahre den international gefeierten Mosfilm „Der letzte Schuss“ (Сорок первый, UdSSR 1956) von Grigori Tschuchrai gesehen hatte und beschloss, aus diesem Stoff eine Oper zu machen. Die Vorlage stammte von dem Autor und Rotarmisten Boris Lawrenjow (1891 bis 1959), der mit seiner Novelle „Der Einundvierzigste“ 1925, eigene Kampferfahrungen verarbeitend, ­einen Klassiker der frühen Sowjetliteratur geschaffen hatte. Bislang entstanden mehrere Theaterbearbeitungen, zwei Verfilmungen und mindestens drei Opern nach Lawrenjows Liebesgeschichte, die zwischen den welthistorischen Kampffronten aufblüht.

Die Handlung nach einer wahren Begebenheit (sogar die Namen sollen authentisch sein) spielt zur Zeit der russischen Bürgerkriege. Verteidigung der Revolution. Einer kleinen Abteilung Rotarmisten gelingt es, den Belagerungsring der gegnerischen Kosaken zu durchbrechen und Kasachstan zu erreichen. Sie führen einen weißgardistischen Offizier mit sich, der dem Gericht übergeben werden soll. Der Meisterscharfschützin Marjutka wird der Gefangene mit dem Befehl überantwortet, ihn dem Feind nicht lebend in die Hände fallen zu lassen. Bei der Überquerung des Aralsees gerät das Boot der Rotarmisten in einen Sturm und strandet an einer unbewohnten Insel. Nur die beiden überleben, der Offizier schwerverletzt. Es kommt zu einer modernen Robinsonade. Marjutka pflegt den Feind, Nähe entsteht. Er ist hochgebildet, feinsinnig wie eine Figur Tschechows. Die Bolschewikin Marjutka, eine Fischerstochter, die sich in Gedichten versucht, wird zunehmend von seinem Charme fasziniert. Sie verlieben sich ineinander, sind glücklich. Unvermeidlich kommt es zwischen dem Paar zur Auseinandersetzung über die Zukunft: „Seite an Seite“. Das Problem des Paares ist nicht bequem reduzierbar auf unterschiedliche „Ideologien“, es ist der „Kampf zweier Welten (…) Mensch gegen Mensch.“ – Er: „Was? Willst du denn wieder unter die Soldaten?“ – Ihr geht es allerdings um die Verteidigung der Revolution: „Ja, was hast du denn gedacht? (…) Und du willst abseits stehen und zusehn? Nein!“ – Er: „Maschenka (…), der ganze Blödsinn ist mir zuwider. Ich bin nicht als Soldat auf die Welt gekommen (…) die Revolution, ich habe an sie geglaubt, wie an eine Frau. (…) Ich aber sah, dass die Revolution stinkt und stiehlt. (…) Die Revolution hat mich enttäuscht.“

Vom Ich zum Wir heißt nicht nur vom Ich zum Anderen – sondern auch zu all den Anderen. Scheinbar geht es hier gar nicht vordergründig um Geschlechterrollen, in Wahrheit aber scheitert der Offizier gerade daran. Er unterschätzt in seinem männlichen Überlegenheitsgefühl sozial, kulturell und materiell völlig das tatsächliche Kräfteverhältnis. Sein Leben liegt in der Hand der jungen Meisterscharfschützin, deren Schüsse im Dienst der Revolution vierzig Mal ihre Ziele nie verfehlten und die sich als Kämpferin für die neue Gesellschaft versteht. Sie gibt keineswegs ihre Aufgabe hin, um an seine Brust zu sinken und nur noch ihm zu folgen. Uns fallen Lenins Worte ein: „Hauptaufgabe der Arbeiter-Frauenbewegung ist es, für die wirtschaftliche und soziale Gleichheit und nicht nur für die formale Gleichstellung der Frauen zu kämpfen. Die Hauptsache ist, Frauen dazu zu bringen, an sozial produktiver Arbeit teilzunehmen, sie von der ‚heimischen Sklaverei‘ zu befreien, aus ihrer betäubenden und erniedrigenden Unterwerfung unter die ewige Plackerei von Küche und Kinderzimmer.“ Für diese Befreiung der Frau steht Marjutka. Was hätten dem Priester und Imperialisten entgegenzusetzen?

Als plötzlich ein Schiff der Weißgardisten vor der Insel auftaucht, läuft der Offizier freudig winkend an den Strand, sich Marjutkas Zuneigung gewiss, aber hin zu den Feinden der Revolution. Im Glauben an den Menschen ruft sie ihn vergeblich zurück. Sie ergreift das Gewehr, sie schießt und sie trifft. Ihr Einundvierzigster. Sie bricht über der Leiche zusammen. Die Tragödie einer unmöglichen Liebe – treu dem Befehl, treu der Sache der Befreiung.

Hoffnung der Liebe

In der Oper wird das Problem der Überhöhung des Einzelschicksals in den geschichtlichen Gesamtzusammenhang mit einem Epilog für drei Chöre gelöst. Matthus fordert ihre Positionierung im Zuschauerraum, hinter der Bühne, im Orchestergraben. Das gesamte Ensemble singt im Finalchor: „Aus Feuer und Schmerz geboren, wächst neu das Leben, Hoffnung der Liebe.“

Auch sind zwei Orchester vorgeschrieben sowie Filmprojektionen und, als eine operndramaturgische Innovation, Toneinspielungen von „Gedankenstimmen“ und „Flüsterstimmen“, die die widerstreitenden Gefühle und Überlegungen der beiden Protagonisten synchron zum Dialog hörbar machen. Nie zuvor wurde der Widerspruch als bestimmendes Element allen Geschehens derartig für ein Opernwerk materialisiert greifbar. Nie zuvor wurde Dialektik für das ohnehin dialektische Genre Oper so ausdrücklich als wesentliches Element der Gestaltung in den Fokus gerückt. Gefühle und Gedanken können konträr zueinander wirken und obendrein im Gegensatz zu Pflichten und Wünschen, zu Gewohntem und Neuem, wie in diesem Liebesdrama. Den komplexen Abläufen und ihrer Dialektik entspricht die Dialektik von Technik und Werkstruktur.

Um zu den Feiern des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution einen Beitrag zu leisten, gab die Komische Oper in Berlin, Deutsche Demokratische Republik, bei ihrem Hauskomponisten das so weit dimensionierte Werk in Auftrag. Doch über diesen repräsentativen Anlass hinaus war die ganze Arbeit doch zutiefst der revolutionären Thematik verbunden: die aufwändige Form ist ganz aus ihrem Inhalt entwickelt. „Der letzte Schuss“ bleibt insofern ein Werk des Realismus im sozialistischen Musiktheater, mitnichten elitär, obwohl es Zwölftonmusik einsetzt oder historische Formen wie das Madrigal, eine Gesangsform der Renaissance und des Frühbarocks, und für die Szene des langen Marsches durch die Wüste Karakum eine Passacaglia, eine Form, die im Barock entstand. – Immerhin war die Zeit der Entstehung von den verheerenden Operationen der Westmächte in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas geprägt, wo antikoloniale Befreiungsbewegungen den Sozialismus zu errichten versuchten. In Teilen Europas schien Friede zu herrschen, doch musste dazu 1961 erst die Grenze der DDR gesichert werden. Eben seit 1961 haben die USA gegen Kuba ihre Blockade verhängt. Im Westen mehrten sich die Proteste gegen den US-amerikanischen Vietnam-Krieg. Che Guevara war gerade einen Monat zuvor in Bolivien ermordet worden, als am 5. November 1967 zum ersten Mal der Vorhang über der Oper hochging – auf dem in großen Lettern das Wort REVOLUTION stand.

Eine optimistische Tragödie

Mit diesem vielschichtigen Werk gelang es Matthus, einen Grundkonflikt des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck zu bringen. Es steht in seiner Bedeutung für das Musiktheater der DDR wie der Moderne inmitten des Spannungsfeldes zwischen Ost und West, dem Neuen und dem Alten. Es wirft die Frage nach unserem Begriff von Liebe und Menschlichkeit auf, nach unserem Ort inmitten der Fronten. – „Der letzte Schuss“ wurde mit einer Schallplattenaufnahme (1969) dokumentiert, besonders in der DDR von sehr vielen Opernbühnen aufgeführt und in allen elften Schulklassen seit 1974 auf vier Seiten des Musiklehrbuchs ausführlich behandelt, wenige Abschnitte nach der „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach.
Doch der Weg ist länger als jener Marsch durch die Sandwüste Karakum zum Aralsee, durch die Stürme der Gegenwart. Die Aktualität der aufgeworfenen Problematik, ob in Lawrenjows Novelle, der Verfilmung oder der Opernversion von Matthus, ist leider ungebrochen. Die Zeit der Konfrontationen zwischen dem Anspruch der Imperialisten auf globale Dominanz und dem Wollen der Völker nach Emanzipation und sozialistischer Zukunft sind noch lange nicht vorbei. Jahrzehnte nach dem Untergang der Sowjetunion sieht es dank der NATO-Präsenz vor Chinas Küsten keineswegs danach aus, als ob ein Ende dieser Kämpfe für die Welt bald in Sicht käme, denn: „Der Schoß ist fruchtbar noch.“


Filmabend im „Café Sibylle“

Am 24. November, 19 Uhr, lädt die DKP Berlin – dieses mal in Kooperation mit der Peter-Hacks-Gesellschaft – zu einem Filmabend in das „Café Sibylle“, 10243 Berlin, Karl-Marx-Alle 72, ein. Der Abend, der dem Gedenken des am 27. August verstorbenen Komponisten Siegfried Matthus gewidmet ist, soll eine Reihe mit zentralen Kulturveranstaltungen der DKP in Berlin eröffnen, um kommunistische Kunst- und Arbeiterkulturtraditionen bis hin zur Klassik zu erschließen.

Gezeigt wird der sowjetische Film „Der letzte Schuss“ von 1956, ein Filmwerk, das in seiner deutschen Version Siegfried Matthus zu einem großen Opernprojekt inspirierte, das nicht nur in der DDR sehr häufig inszeniert wurde. Zur Einführung gehen Dr. Detlef Kannapin und Olaf Brühl kurz auf den Film ein und erläutern die Opern­adaption von Matthus, die vor dem Ende der DDR sogar in der BRD mehrfach erfolgreich aufgeführt worden war, seither aber nirgends mehr heraus gebracht wurde.

Der Artikel ist im Sommer noch im Austausch mit Prof. Siegfried Matthus entstanden.

Für die Veranstaltung im „Café ­Sibylle“ gelten die aktuellen Bestimmungen: 2G-Regel

Eintritt: 5 Euro, ermäßigt 3 Euro; Kartenreservierung: 030 36 46 49 15. Um Voranmeldung an kontakt@peter-hacks-gesellschaft.de wird gebeten

Der Film ist in Originalversion mit englischen Untertiteln auf Youtube zu finden: kurzelinks.de/­Einundvierzigster

Dort können auch Ausschnitte aus einer Aufzeichnung der Oper mit dem Suchwort „Siegfried Matthus“ gefunden werden.

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"Die Revolution und die Liebe", UZ vom 19. November 2021



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